Hirtenhunde faszinieren viele Menschen und erfreuen sich seit Jahren wachsender Beliebtheit – sowohl im Hundesport als auch als treue Familienbegleiter. Doch diese oft als ideale Partner angepriesenen Rassen stellen ihre Besitzer nicht selten vor unerwartete Herausforderungen. Die Anzahl der sogenannten „Problemhunde“ in Hundeschulen und Tierheimen steigt, was die Frage aufwirft: Sind diese intelligenten und leistungsfähigen Tiere tatsächlich für unser modernes Leben geschaffen, oder sind sie ein lebender Anachronismus, dessen Bedürfnisse wir oft missverstehen? Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir tief in die Geschichte und die ursprüngliche Verwendung dieser bemerkenswerten Hunde eintauchen. Nur wer die genetischen Anlagen und die ursprünglichen Aufgaben von Hirtenhunden wirklich versteht, kann ihnen ein artgerechtes und erfülltes Leben bieten. Auch andere robuste und vielseitige Arbeitshunde wie der Sennenhund zeigen, wie wichtig es ist, die spezifischen Bedürfnisse einer Rasse zu kennen.
Die Vielfalt der Hirtenhunde: Eine Definition
Im alltäglichen Sprachgebrauch werden die Begriffe Hirten-, Hüte- und Treibhunde oft synonym verwendet. Doch dahinter verbergen sich unterschiedliche Aufgaben und Rassespezialisierungen, die wir im Folgenden genauer beleuchten werden.
Herdenschutzhunde (Hirtenhunde im engeren Sinne)
Herdenschutzhunde sind, wie der Name schon andeutet, imposante und kräftige Hunde, deren Hauptaufgabe es war und ist, Viehherden vor Raubtieren wie Wölfen oder Bären zu schützen. Rassen wie der Sarplaninac, der Kuvasz oder der Cane de Pastore Maremmano-Abruzzese, aber auch der Pyrenäen Hund wachsen als Welpen direkt bei den Tieren auf, die sie später beschützen sollen, meist Schafe oder Ziegen. Sie werden in den Stall geboren und entwickeln eine tiefe Bindung zu ihrer Herde. Ihre Tage verbringen sie damit, die Herde zu begleiten und zu überwachen, bei jedem Wetter, Sommer wie Winter. Mit der Rückkehr von Wölfen in Regionen wie Deutschland gewinnen diese alten Rassen in ihrer ursprünglichen Bestimmung wieder an Bedeutung. Ihre Aufgabe ist es nicht, die Herde zu lenken, sondern sie kompromisslos zu verteidigen.
Ein imposanter Herdenschutzhund liegt schützend bei einer Schafherde auf einer grünen Weide unter blauem Himmel.
Treibhunde
Die Aufgabe von Treibhunden bestand ursprünglich darin, Nutztiere – meist Rinder oder Schafböcke – von einem Ort zum anderen zu bringen. Oftmals war das Ziel das Schlachthaus, und die zu treibenden Tiere waren keine friedlichen Milchkühe, sondern wehrhafte Ochsen, Hammel, Stiere oder Böcke. Für diese anspruchsvolle Arbeit wurden körperlich robuste und widerstandsfähige Hunde benötigt, die sich durchsetzen konnten, Tritten und Stößen der Tiere auswichen und sie durch Bellen oder gezielte Griffe (Bisse in bestimmte Körperregionen wie die Fessel) vorwärtstrieben. Dabei durften sie die Nutztiere jedoch nicht unnötig stressen, um keinen Gewichtsverlust zu verursachen. Bei vielen Treibhunden, wie dem Australian Shepherd, dem Australian Cattle Dog oder dem Westerwälder Kuhhund, ist der sogenannte „Heel“ (Fersenbiss) genetisch verankert. Während die physische Kraft dieser Hunde beeindruckend ist, entscheidet nicht nur das Gewicht darüber, ob ein Hund die notwendige Autorität besitzt, auch wenn manche vielleicht nach dem schwerster hund der welt suchen.
Ein Australian Shepherd blickt aufmerksam und konzentriert in die Ferne, seine Augen fixieren ein Ziel.
Schäferhunde
Ein Schäferhund unterstützt den Schäfer aktiv bei der Arbeit an der Schaf- oder Ziegenherde. Hierbei muss zwischen zwei Haupttypen unterschieden werden, die sich nicht nur in ihrer Arbeitsweise, sondern auch in den über Jahrhunderte herausgebildeten Rassespezialisierungen unterscheiden.
Herdengebrauchshunde
Herdengebrauchshunde begleiten die wandernde Schafherde. Sie bewegen sich („geigen“ oder „wehren“) links und rechts entlang der Herde, um sicherzustellen, dass sie nicht zu breit wird und auf den vorgeschriebenen Wegen bleibt, ohne beispielsweise angrenzende Felder zu betreten. Im sogenannten Gehüt, einem großen oder begrenzten Weidegebiet, patrouillieren sie entlang der Grenzen und treiben Tiere, die die Grenze überschreiten, zurück. Dafür dürfen sie gezielte, druckvolle, aber nicht verletzende Griffe wie den Nacken-, Keulen- oder Rippengriff anwenden. In unübersichtlichem Gelände dürfen sie die Schafe durch Bellen zusammentreiben, ansonsten ist Bellen unerwünscht. Typische Rassen sind die Altdeutschen Hütehunde, Holländischen Schäferhunde und der Deutsche Schäferhund.
Koppelgebrauchshunde
Koppelgebrauchshunde haben eine andere Aufgabe: Sie arbeiten im Stall, auf der Koppel oder am Pferch, wo sie Tiere treiben oder fernhalten müssen, etwa beim Entwurmen oder Scheren. Ihre besondere Fähigkeit liegt im Auffinden, Zusammentreiben und Transportieren von Schafen und Ziegen, die oft in weitem, unübersichtlichem Gelände verstreut grasen. Dafür sind wendige, feinnervige Hunde gefragt, die sehr selbstständig denken und arbeiten, aber auch auf Pfiffe des Schäfers über weite Entfernungen hinweg reagieren. Der Border Collie ist die bekannteste Rasse unter den Koppelgebrauchshunden.
Zwei Border Collies laufen aufmerksam und konzentriert durch eine Wiese, bereit zur Arbeit an der Herde.
Charakter und Instinkte: Warum ihre Geschichte zählt
Die Anforderungen ihrer ursprünglichen Verwendung prägen bis heute die Genetik und das Verhalten dieser Hunde. Wenn ihre Anlagen nicht entsprechend berücksichtigt werden, führt dies häufig zu Problemen in der modernen Haltung.
Herdenschutzhunde: Selbstständigkeit und Schutztrieb
Neben ihrer imposanten Größe zeichnet Herdenschutzhunde eine hohe Reizschwelle und ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Fremdem aus. Sie sind darauf selektiert, „ihre Familie“ – die Herde – kompromisslos zu verteidigen, notfalls mit dem eigenen Leben. Sie bewachen und überwachen ihre anvertraute Herde. Bei Annäherung eines Eindringlings versuchen sie diesen zunächst mit massivem Bellen und Drohen zu vertreiben. Werden diese Warnungen ignoriert, setzen sie als letztes Mittel ihre Zähne ein. Fälschlicherweise werden Herdenschutzhunde oft als stur bezeichnet. Man muss jedoch bedenken, dass sie über Jahrhunderte darauf selektiert wurden, das Eigentum des Menschen selbstständig zu schützen, ohne auf Anweisung zu warten, da der Besitzer oft nicht in unmittelbarer Nähe war.
Herdengebrauchshunde: Ausdauer und Beutemotivation
Herdengebrauchshunde, also Schäferhunde für Wanderherden, hatten neben ihrer Funktion als „lebende Grenze“ auch die Aufgabe, die Herde vor Dieben zu schützen. Daraus resultieren eine sehr hohe Ausdauer, Leistungsfähigkeit und eine gewisse Verteidigungsbereitschaft, die diesen Rassen eigen ist. Viele Herdengebrauchshunderassen besitzen neben einem hohen Bewegungsdrang eine starke Beutemotivation und Jagdleidenschaft. Das „Schafe hüten“ hat mehr Gemeinsamkeiten mit dem „Beute jagen“, als mancher Hundehalter ahnt: Orten, Anschleichen, Fixieren, Treiben, Einkreisen – nur das Töten wurde über Jahrhunderte weitgehend wegzüchtet. Die Natur hat jedoch ihre eigenen Regeln, und so gibt es auch heute noch Herdengebrauchshunde, die für die Hütearbeit ungeeignet sind, weil sie beispielsweise zu grob sind oder Schafe jagen, anstatt sie schonend zu treiben.
Ein eleganter Shetland Sheepdog sitzt auf einer Wiese und blickt aufmerksam und intelligent in die Kamera.
Koppelgebrauchshunde: Sensibilität und Reizempfänglichkeit
Bei Koppelgebrauchshunden, die ihren Ursprung in Großbritannien haben, war eine gewisse Schärfe unnötig, da Wölfe auf den Britischen Inseln bereits seit Jahrhunderten ausgerottet waren. Es ist ein Märchen, dass Border Collies keinen Jagdtrieb hätten; er ist lediglich anders kanalisiert. Koppelgebrauchshunde wurden darauf selektiert, auf kleinste Pfiffe, Gesten und Fingerzeichen des Schäfers zu reagieren. Damit einher ging eine große Sensibilität und Reizempfänglichkeit, die dazu führt, dass diese Hunde eine ruhige Umgebung benötigen. Sie neigen zum Überdrehen und können von zu vielen Reizen förmlich überflutet und überfordert werden. Dies kann zu Geräuschängsten und starkem Stress führen, da ihr Gehirn unwichtige Reize nur schwer ausblenden kann. Solche Hunde brauchen Ruhe, Geduld und viel Verständnis für ihre Bedürfnisse.
Treibhunde: Kommunikativ und entscheidungsfreudig
Treibhunde mussten, um ihre Arbeit effektiv zu verrichten, eine laute Stimme besitzen und bereit sein, diese einzusetzen. Zudem durften sie sich nicht scheuen, ihre Zähne gezielt zu gebrauchen. Gleichzeitig mussten sie auf leiseste Anweisungen ihres Treibers oder Hirten reagieren, aber auch fähig sein, eigene Entscheidungen zu treffen und diese umzusetzen. Diese Kombination aus einem großen Bewegungsbedürfnis, ausgeprägter verbaler Kommunikation und einer gewissen Reizempfindlichkeit prägt die meisten Treibhunderassen bis heute.
Ein Australian Cattle Dog liegt wachsam und aufmerksam auf einer Holzveranda im Sonnenlicht.
Ausbildung und Alltag: Damals und Heute
Obwohl sich die Nutztierzucht über die Jahrhunderte gewandelt hat, gehen viele Hunde noch immer ihrer ursprünglichen Arbeit nach. Ihr Alltag unterscheidet sich kaum von dem ihrer Vorfahren. Auch wenn große Rinder- und Schweineherden, die früher von Hunden getrieben wurden, in Deutschland seltener geworden sind und Transporte oft von Lastwagen übernommen werden, gibt es weiterhin Wanderschafherden und Koppelherden, und damit auch Herdengebrauchshunde und Koppelgebrauchshunde, die ihre wichtige Aufgabe erfüllen.
Der Herdengebrauchshund: Eine langwierige Lehrzeit
Die Lehrzeit eines Herdengebrauchshundes beginnt je nach Schäfer und Tradition im Alter zwischen sechs Monaten und einem Jahr. Zunächst begleitet der junge Hund den Schäfer an der Leine, um die tägliche Routine kennenzulernen, Ruhe zu halten und Frust auszuhalten. Erst nach Wochen oder Monaten darf der vierbeinige Lehrling bei kurzen Einsätzen zeigen, was genetisch in ihm steckt. Ein guter Herdengebrauchshund wird oft fünf Jahre lang ausgebildet, bevor er als vollwertiger Arbeitshund gilt. Während des Herdenzuges ist die Arbeitsbelastung besonders hoch. Die Hunde legen die Strecke der Herde, die bis zu 15 Kilometer betragen kann, mehrfach zurück, indem sie ständig in der Furche pendeln. Ein Schäfer hält daher in der Regel mehrere Hunde, um ihnen Erholung zu ermöglichen. Diese harte Arbeit hat wenig mit „Schäferromantik“ gemein.
Wenn Sie einem Herdengebrauchshund oder Herdenschutzhund in seinem ursprünglichen Umfeld begegnen, sei es im Urlaub oder bei einer Wanderung, nehmen Sie Ihren eigenen Hund an die Leine und halten Sie langsam und in möglichst großem Abstand an der Schafherde vorbei. Dies zeigt dem Hund, dass weder Sie noch Ihr Hund den Tieren etwas Böses wollen. Herdenschutzhunde und Herdengebrauchshunde werden ihre Herde im Normalfall verteidigen, und es wäre weder fair noch klug, eine Konfrontation zu riskieren. Trächtige Schafe, die erschreckt oder gehetzt werden, verlieren oft ihre ungeborenen Lämmer.
Der Koppelgebrauchshund: Feinarbeit mit Schafen
Die Ausbildung eines Koppelgebrauchshundes beginnt ebenfalls oft im Alter von sechs Monaten bis einem Jahr. Im Gegensatz zum Herdengebrauchshund wird der Lehrling meist nur für kurze Übungssequenzen an einer kleinen Schafgruppe trainiert. Rinder sind wehrhafte Tiere, daher sollte die Ausbildung zuerst an Schafen erfolgen, da hier eine präzisere und feinere Schulung möglich ist. Der junge Hund lernt die wichtigsten Kommandos wie das Laufen im oder gegen den Uhrzeigersinn, das Nachtreiben, Stoppen, Einholen der Herde und den sogenannten Outrun. Später folgen das Separieren, das Arbeiten mit Teilen der Herde und das Sammeln einzelner Tiere. Auch hier gilt: Die Ausbildung dauert Jahre. Ein vollausgebildeter Koppelgebrauchshund kann in einer Schäferei mehrere Menschen ersetzen. Während Herdengebrauchshunde Langstreckenträger sind, ist die Arbeit in einer Koppelschäferei für einen Hund nicht minder anstrengend. Je kleiner die Herde, desto schwieriger ist es, sie zu kontrollieren. Koppelgebrauchshunde müssen ihren Druck wesentlich feiner dosieren als Herdengebrauchshunde, was sowohl sehr feinnervige Hunde erfordert als auch Stress für sie bedeutet. Daher werden viele Koppelgebrauchshunde zwischen den Arbeitseinsätzen in möglichst reizarmen und ruhigen Ecken untergebracht, um sich zu entspannen und nicht permanent unter Hochspannung zu stehen.
Hirtenhunde in der modernen Welt: Herausforderungen als Familienhund
Nachdem wir die ursprünglichen Aufgaben und den anspruchsvollen Alltag von Hirtenhunden beleuchtet haben, wird schnell klar, dass diese Rassen keineswegs „familienfreundliche Anfängerhunde“ sind, als die sie oft beworben werden. Sie wurden durch die Anforderungen ihrer Vorfahren geformt und sind nicht unbedingt für ein modernes, urbanes Umfeld gemacht.
Urbanes Umfeld und angeborene Bedürfnisse
Ein bellfreudiger Australian Shepherd, der in einer Stadtwohnung bei einem berufstätigen Pärchen lebt, handelt oft gegen seine Natur und seine Instinkte. Das Gleiche gilt für einen feinnervigen Border Collie, der im Hundesport übermäßig gepusht wird und einem Stresslevel ausgesetzt ist, das ihm schaden kann. Die meisten Hunde dieser Rassen sind so empfindsam und reizempfänglich, dass eine rein körperliche Auslastung ohne ausreichende Entspannungsmöglichkeiten ihnen keinen Gefallen tut. Sie brauchen Besitzer, die bereit sind, sich intensiv mit ihren Bedürfnissen auseinanderzusetzen und sich nicht von ihrem attraktiven Äußeren oder ihrer schnellen Auffassungsgabe blenden lassen.
Ein kräftiger Beauceron mit wachem Blick steht auf einem Feld.
Fehlinterpretationen und ihre Folgen
Im Laufe der Zeit können stressbedingte körperliche Krankheiten oder ein „Melt-down“ auftreten, bei dem die Hunde buchstäblich die „Sicherungen durchbrennen“ und sie sich oder andere schädigen – sei es durch das Jagen von Autos oder Beißen. Leider wird in solchen Fällen oft versucht, diese Verhaltensweisen durch falsche und zu harte Erziehungsmaßnahmen abzugewöhnen, was zum Scheitern verurteilt ist, da hier die Ursachen nicht behoben werden. Hütehunde sind keine einfachen Hunde. Manchmal werden sie sogar als „Autisten unter den Hunden“ bezeichnet, da sie durch ihre Geschichte und ursprüngliche Verwendung sehr reizempfindlich sind.
Verantwortungsvolle Haltung und Verständnis
Um einem Hirtenhund ein glückliches und ausgeglichenes Leben zu ermöglichen, ist es unerlässlich, seine tief verwurzelten Bedürfnisse zu verstehen und zu respektieren. Eine verantwortungsvolle Haltung bedeutet, nicht nur körperliche, sondern auch geistige Auslastung zu bieten, die ihren angeborenen Hüte- oder Treibinstinkten gerecht wird, ohne sie zu überfordern. Gleichzeitig müssen ausreichend Ruhephasen und eine reizarme Umgebung gewährleistet sein. Nur so kann eine harmonische Beziehung zwischen Mensch und Hirtenhund entstehen, die den Ansprüchen beider Seiten gerecht wird. Wer sich für einen Hirtenhund entscheidet, übernimmt die Verantwortung, ihm ein Leben zu ermöglichen, das seinen einzigartigen Anlagen entspricht.
