Die Begegnungen zwischen Hertha BSC und dem 1. FC Union Berlin sind seit dem Bundesliga-Aufstieg der „Eisernen“ im Jahr 2019 zu einem festen Bestandteil des deutschen Fußballkalenders geworden. Das Berliner Derby, das am 18. Spieltag der Saison 2022/23 erneut die Blicke der Welt auf die deutsche Hauptstadt zog, vereint Fußball, Politik und Geschichte in einer Stadt, die einst geteilt war. Dieses einzigartige Duell ist weit mehr als nur ein lokales Kräftemessen; es ist ein Spiegelbild der Berliner Seele, ihrer Vergangenheit und ihrer Entwicklung. Die Intensität und die historische Tiefe machen das Berliner Derby zu einem der faszinierendsten Sportevents Deutschlands, das Fans beider Lager und darüber hinaus in seinen Bann zieht.
Die jüngsten Kapitel einer packenden Geschichte
Seit der ersten Begegnung in der höchsten Spielklasse haben Hertha BSC und Union Berlin eine Reihe denkwürdiger Spiele geliefert, die die Rivalität weiter anheizten. Union Berlin gewann das erste Bundesliga-Duell im November 2019/20, als der eingewechselte Sebastian Polter per Elfmeter das einzige Tor erzielte. Hertha revanchierte sich jedoch am 27. Spieltag derselben Saison mit einem überzeugenden 4:0-Sieg, der die Kräfteverhältnisse in diesem frühen Stadium der Bundesliga-Rivalität wieder ausglich. Die “Alte Dame” hatte im ersten Aufeinandertreffen der Saison 2020/21 die Nase vorn und gewann zu Hause mit 3:1, während das Rückspiel an der Alten Försterei mit einem 1:1-Unentschieden endete.
Unions Aufstieg und Dominanz
Die Saison 2021/22 markierte einen Wendepunkt in der Derby-Historie. Union feierte am 12. Spieltag einen 2:0-Sieg, bei dem Taiwo Awoniyi und Christopher Trimmel die Torschützen waren. Es folgte ein dramatischer 3:2-Sieg im DFB-Pokal-Achtelfinale für die „Eisernen“ im Olympiastadion, der die Dominanz Unions unterstrich. Anschließend machten sie den Erfolg perfekt und gewannen das Bundesliga-Rückspiel mit einem beeindruckenden 4:1-Triumph auswärts. Ein weiterer 3:1-Heimsieg in Köpenick zum Saisonauftakt 2022/23 besiegelte Unions vierte Derbysieg in Folge in der Hauptstadt. Diese Serie hat die Stimmung in Berlin nachhaltig verändert und die “Eisernen” als die aktuell führende Kraft im Berliner Fußball etabliert.
Union Berlin feiert einen Derbysieg im eigenen Stadion gegen Hertha BSC.
Dramatische Pokalschlachten und klare Bundesliga-Siege
Diese jüngsten Begegnungen waren nicht die ersten Berliner Derbys in der Bundesliga, doch sie trugen maßgeblich zur Prägung der modernen Rivalität bei. Unions erstmaliger Aufstieg machte sie zum fünften Hauptstadtverein in der höchsten Spielklasse, nach Tasmania 1900 Berlin, Blau-Weiß Berlin, Tennis Borussia Berlin und natürlich Hertha BSC. Trotz der Tatsache, dass Berlin mehr Bundesliga-Vereine als jede andere Stadt hervorgebracht hat, gab es bis zu Unions 3:1-Sieg am 1. Spieltag der Saison 2022/23 nur elf Spiele zwischen Hauptstadtklubs in der Bundesliga. Interessanterweise endete nur eines dieser Spiele mit einer Punkteteilung. Das DFB-Pokal-Duell 2021/22 war zudem die erste nationale Pokalbegegnung zwischen Hertha und Union, was die historische Dimension dieser Duelle nochmals verdeutlichte.
Die Wurzeln des Berliner Fußballs: Mehr als nur ein Spiel
Von den bisher 60 Bundesliga-Spielzeiten war Hertha BSC mit 40 Teilnahmen der mit Abstand präsenteste Verein. Tasmania und Blau-Weiß schafften jeweils nur eine Saison (1965/66 bzw. 1986/87), wobei Hertha zu diesen Zeiten nicht in der Liga vertreten war. Vor Union war Tennis Borussia der einzige andere Berliner Verein neben Hertha, der mehr als eine Saison in der höchsten Spielklasse verbrachte und tatsächlich in den Saisons 1974/75 und 1976/77 gemeinsam mit der „Alten Dame“ spielte. Doch erst 2020/21 schaffte es ein anderer Berliner Verein, in der Bundesliga-Tabelle vor Hertha zu landen. Die „Alte Dame“ hatte in ihrem ersten gemeinsamen Jahr Union nur aufgrund der Tordifferenz hinter sich gelassen, doch die „Eisernen“ schrieben in der folgenden Saison Geschichte.
Berliner Vereine in der Bundesliga vor Union
Union beendete die Saison auf einem beeindruckenden siebten Platz, 15 Punkte vor Hertha, und qualifizierte sich zum zweiten Mal überhaupt für Europa. Hertha hingegen landete auf Platz 14 und entging dem Abstieg nur knapp. Der Unterschied wurde in der Saison 2021/22 noch größer, als die „Eisernen“ einen bemerkenswerten fünften Platz erreichten (nur einen Punkt hinter der UEFA Champions League-Qualifikation), ganze 24 Punkte mehr als die „Alte Dame“, die in der Relegation um den Verbleib in der höchsten Spielklasse kämpfen musste. Diese Entwicklung zeigt deutlich, wie sich die Kräfteverhältnisse im Berliner Fußball in den letzten Jahren verschoben haben.
Die Fans von Union Berlin feiern den ersten Bundesliga-Derbysieg über Hertha BSC im eigenen Stadion.
Die Verschiebung der Machtverhältnisse
Das erste Hauptstadtderby fand am 16. November 1974 statt, als Hertha mit 3:0 ‘auswärts’ gegen Tennis Borussia im Olympiastadion gewann. Die „Alte Dame“ gewann die nächsten beiden Heimspiele 1975 (2:1) und 1976 (2:0), bevor sie das Rückspiel 1977 mit 0:2 verlor. Während dies Berliner Derbys und heftige lokale Rivalitäten waren, handelte es sich auch um West-Berliner Derbys. Das ist der entscheidende Unterschied zu den Spielen mit Union, da die „Eisernen“ der erste Verein aus dem ehemaligen Ost-Berlin sind, der es in die Bundesliga geschafft hat. Um die Bedeutung dieses Derbys wirklich zu erfassen, muss man die moderne Geschichte Berlins als Stadt verstehen. Die tiefe Verwurzelung in der Stadtgeschichte verleiht diesem Duell eine zusätzliche Ebene, die weit über das Sportliche hinausgeht.
Eine Stadt, zwei Welten: Fußball im geteilten Berlin
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Deutschland und seine Hauptstadt unter den alliierten Mächten aufgeteilt. Die Besatzungszonen unter der Kontrolle der Vereinigten Staaten, des Vereinigten Königreichs und Frankreichs bildeten Westdeutschland, während das Gebiet unter der Kontrolle der Sowjetunion zu Ostdeutschland wurde. Als Hauptstadt war Berlin selbst in ähnlicher Weise geteilt. Das Berliner Gebiet lag vollständig innerhalb des ostdeutschen Territoriums, und 1948 verhängten die Sowjets eine Blockade über den Westen der Stadt, der auf dem Landweg abgeschnitten war. Nur die Berliner Luftbrücke der Westmächte hielt ihren Teil Berlins mit Lebensmitteln und allen anderen wesentlichen Gütern versorgt. Berlin war fast 30 Jahre lang eine geteilte Stadt, mit einem der wenigen Zugangspunkte zwischen Ost und West über den Checkpoint Charlie.
Die historische Teilung und ihre Folgen
Mit der Eskalation des Kalten Krieges begann die ostdeutsche Regierung 1961 mit dem Bau der Berliner Mauer, um West-Berlin zu umschließen. Während Westlern die Einreise in ostdeutsches Gebiet über streng kontrollierte Kontrollpunkte gestattet war, war Ostlern die Einreise in den Westen ohne vorherige Zustimmung verboten. Berlin als Stadt war geteilt. Was als politische Spaltung begann, manifestierte sich in eine soziale und wirtschaftliche, da das Leben in den beiden Berlin zunehmend auseinanderdriftete. Diese Trennung prägte auch die Entwicklung des Fußballs in beiden Teilen der Stadt und schuf unterschiedliche Identitäten und Vereinsgeschichten.
Fußball im Schatten der Berliner Mauer
Auf sportlicher Ebene spielten Ost-Berliner Mannschaften im ostdeutschen Ligasystem. Vereine wie Vorwärts Berlin und BFC Dynamo dominierten die Fußballlandschaft hinter dem Eisernen Vorhang. Union Berlin wurde 1966 aus dem SC Union Oberschöneweide gegründet und feierte 1968 seinen größten Erfolg, als sie den FDGB-Pokal, den ostdeutschen Pokal, gewannen. Dieser Erfolg war ein wichtiger Meilenstein für den Verein und seine Anhängerschaft im Osten der Stadt.
Die Wiedervereinigung und die Geburt einer Rivalität
Nach monatelangen sozialen Unruhen in Berlin wurde die Berliner Mauer am 9. November 1989 niedergerissen, und der Zugang zwischen den beiden Seiten der Stadt wurde zum ersten Mal seit fast drei Jahrzehnten wieder ermöglicht. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte es eine allgemeine Freundschaft zwischen Hertha- und Union-Fans gegeben. Da Westler manchmal nach Ost-Berlin reisen durften, besuchten Hertha-Anhänger oft Spiele an der Alten Försterei, die zu einem Ort des Dissenses gegen den ostdeutschen Staat wurde. Im Gegenzug begleiteten Union-Fans die „Alte Dame“ bei ihren Europapokalspielen in Osteuropa, darunter ein UEFA-Cup-Viertelfinale in Prag 1979, wo die Hälfte der 30.000 Zuschauer von beiden Seiten Berlins angereist war.
Vom Fall der Mauer zur Freundschaft
Diese Solidarität setzte sich fort, als die Mauer fiel, und die Berliner sahen sich als Anhänger der gesamten Stadt. Als Hertha nur zwei Tage nach dem Mauerfall Wattenscheid in der 2. Bundesliga empfing, strömten 44.000 Zuschauer ins Olympiastadion, um ein 1:1-Unentschieden zwischen den beiden Aufstiegskandidaten zu erleben, das normalerweise nur 10.000 Zuschauer angezogen hätte. Unter den Zuschauern an diesem Tag waren mehrere tausend Ost-Berliner, die Freikarten erhalten hatten.
Die Berliner Mauer wird am 9. November 1989 abgerissen, was den Prozess der Wiedervereinigung der Stadt einleitet.
Nur wenige Monate später, am 27. Januar 1990, kam es zum ersten Spiel zwischen Hertha und Union seit 28 Jahren. Eine offizielle Zuschauerzahl von 51.270 wurde im Olympiastadion verzeichnet, obwohl die tatsächliche Gesamtzahl wahrscheinlich höher war. Es wurde zu einem Fest für Berlin. „Die Zuschauer hielten sich im Grunde in den Armen und feierten“, erinnert sich der ehemalige Hertha-Stürmer Sven Kretschmer, der bei der 1:2-Niederlage spielte, bevor die beiden Mannschaften anschließend gemeinsam zu Abend aßen. Union-Fan Chris Lopatta sagte über das einmalige Spiel: „Es war großartig. Wir trafen dort viele nette Hertha-Fans und blieben lange Freunde.“ Hertha-Anhänger und Radiomoderator Manfred Sangel beschrieb es als „ein riesiges emotionales Highlight“. Er fügte jedoch hinzu: „Aber das verpuffte ziemlich schnell.“
Die Entwicklung zur echten Konkurrenz
Das lag zum Teil daran, dass die Aufgabe, Ost und West der Stadt sozial und wirtschaftlich auf ein gleiches Niveau zu bringen, begonnen hatte. Es gab auch große sportliche Unterschiede zwischen Hertha und Union. Während Hertha in dieser Saison den Wiederaufstieg in die Bundesliga schaffte, verpassten die „Eisernen“ den Aufstieg in die höchste Spielklasse Ostdeutschlands. Als die beiden Ligasysteme nach der formalen Wiedervereinigung zusammengeführt wurden, fand sich Union in der dritten Liga wieder und kämpfte um den Aufstieg. Die Finanzen des Vereins blieben jedoch ein ernstes Problem.
Der lange Weg des 1. FC Union Berlin
Trotz des Verkaufs verschiedener Spieler, um über Wasser zu bleiben, schaffte es das Team schließlich 2001 in die 2. Bundesliga, im selben Jahr, in dem sie Vizemeister im DFB-Pokal wurden und als erster Drittligist in der deutschen Geschichte einen Platz im UEFA-Cup erspielten. Das folgende Jahrzehnt war jedoch eine Achterbahnfahrt. Drei Saisons in der zweiten Liga folgten zwei aufeinanderfolgende Abstiege. Die Kassen waren wieder leer, und Union musste 1,46 Millionen Euro auf dem Konto haben, um in der vierten Liga spielen zu dürfen. Da Blutspender in Deutschland bezahlt werden, starteten Fans die Kampagne „Bluten für Union“, bei der Anhänger Blut spendeten und das Geld dann dem Verein gaben. Bis 2009 hatte sich das Team wieder in die 2. Bundesliga hochgearbeitet, wo sie die nächsten 10 Jahre verbringen sollten. Dort entstand schließlich die sportliche Rivalität mit Hertha.
Das erste rein Berliner Derby in der 2. Bundesliga fand im Stadion An der Alten Försterei statt und endete mit einem 1:1-Unentschieden. Hertha gewann das Rückspiel zu Hause mit 2:1 und stieg schließlich als Tabellenführer auf. Die „Alte Dame“ kehrte zwei Jahre später nach einem weiteren Abstieg zurück. Diesmal verloren sie ihr kurzes Auswärtsspiel im Osten mit 1:2, bevor ein 2:2-Unentschieden im Olympiastadion die Wettbewerbsbilanz zwischen den beiden Vereinen ausglich.
Die Moderne Rivalität: Leidenschaft, Medien und Identität
Laut dem ehemaligen Hertha-Spieler und Cheftrainer Ante Covic ist der Verein „ein Verein für ganz Berlin, was man daran sieht, dass wir in allen 12 Berliner Bezirken trainieren“. Dies steht im Gegensatz zur Fanbasis von Union im Stadtteil Köpenick, die traditionell aus Arbeiteranhängern bestand. Während soziale Unterschiede eine Rolle dabei gespielt haben mögen, dass die Beziehung frostiger wurde, war es selten mehr als das. „Ich erinnere mich nur an eine freundschaftliche Beziehung zwischen Hertha und Union und dass wir Freundschaftsspiele gegeneinander gespielt haben“, fügte Covic vor der ersten Begegnung der Mannschaften 2019/20 hinzu. „Die Rivalität, die wir heute haben, ist über mehrere Jahre aus verschiedenen Gründen gewachsen.“ Er betonte: „Ich denke, die Stadt ist groß genug, dass wir die verbleibenden 12 Bezirke nutzen können. Wir sollten uns nur auf dem Platz an Union messen.“
Die Fan-Perspektive: Mehr Frotzeleien als Hass
Fans sehen die Rivalität oft als ein von den Medien hochgespieltes Konzept und glauben, dass es eher Gezänk als Hass ist, wie in anderen Derbys. Eine Fan-Umfrage ergab, dass abfällige Gesänge eher auf Gruppendruck zurückzuführen waren, und dies hat zu einem unnötigen Konflikt geführt. In Wirklichkeit hat es für die meisten nichts mit der Ost-West-Teilung zu tun, sondern hat sich einfach wie jede lokale Rivalität entwickelt. Die Rivalität ist ein Ausdruck der lokalen Identität und des sportlichen Ehrgeizes, der in jeder großen Stadt mit zwei erfolgreichen Vereinen zu finden ist.
Eine geteilte Familie: Ein Vater, der Hertha-Fan ist, und seine Tochter, die Union-Fan ist, stehen zusammen.
Die Rolle des 30. Jahrestages des Mauerfalls
Unions erstmaliger Aufstieg in die Bundesliga kam auch zu einem passenden Zeitpunkt für viele. Ihre erste Bundesliga-Saison 2019/20 fiel mit dem 30. Jahrestag des Mauerfalls zusammen, und es gab Forderungen, das erste rein Berliner Derby an diesem Tag auszutragen. Bei der Erstellung des Spielplans dürfen Vereine den Wunsch äußern, zu einem bestimmten Zeitpunkt gegen einen Gegner zu spielen. Hertha erklärte, sie hätten darum gebeten, das Derby am Samstag, den 9. November 2019, dem Jahrestag des Mauerfalls, auszutragen, da „es ein fantastischer Tag für das Berliner Derby wäre“.
Union-Präsident Dirk Zingler sah die Dinge jedoch anders: „Für mich ist es ein Derby, es steht für Rivalität, Abgrenzung und fußballerischen Klassenkampf. Ich finde es absurd, diesem Spiel unter dem Mantra der deutschen Einheit einen freundlichen Charakter zu verleihen.“ Diese beiden gegensätzlichen Aussagen demonstrieren sowohl die Bedeutung dieses Derbys für Berlin – und in geringerem Maße auch für ein geeintes Deutschland – als auch die unterschiedlichen Meinungen zu diesem Thema. Beide Vereine wollen die hart erkämpfte Einheit der Stadt und die Fortschritte der letzten drei Jahrzehnte feiern, doch sie sehen dieses Derby mittlerweile als eine echte Rivalität.
Freundschaft, die zur Rivalität wurde
Es gibt tiefgreifende historische und politische Facetten, die dieses Aufeinandertreffen jenseits eines einfachen lokalen Derbys so besonders und einzigartig machen. Es lässt sich jedoch am besten definieren als eine Freundschaft, die auf Solidarität gegründet wurde und sich zu einer Rivalität entwickelt hat, die der Hauptstadt der Nation würdig ist. Die Fans und die Medien mögen unterschiedliche Interpretationen der Rivalität haben, doch im Kern ist es die Geschichte einer Stadt, die durch ihren Fußball ihre Identität und ihren Zusammenhalt neu definiert.
