In der modernen Gesellschaft hat sich seit den 1970er Jahren ein fundamentaler Wandel vollzogen: Die Gesellschaft Der Singularitäten ersetzt die industrielle Moderne der Nachkriegszeit. Während früher Standardisierung und Gleichheit im Vordergrund standen, dominieren heute Einzigartigkeit und Besonderheit in Wirtschaft, Technologie und Kultur. Diese Verschiebung führt paradoxerweise zu Polarisierungen, die unser gesellschaftliches Leben prägen. Besonders in der neuen Mittelklasse zeigt sich diese Dynamik deutlich – ein Thema, das Andreas Reckwitz in seiner wegweisenden Analyse beleuchtet.
Die industrielle Moderne der 1950er bis 1970er Jahre schuf eine „Gesellschaft der Gleichen“, geprägt von Massenproduktion, nivellierter Mittelstandskultur und kollektiven Normen. Heute, in der Spätmoderne, orientiert sich alles am Singulären: Individuen, Produkte, Orte und Erlebnisse werden als einzigartig bewertet. Dieser Beitrag erkundet die Ursachen, Mechanismen und Konsequenzen dieser Gesellschaft der Singularitäten.
Coverabbildung zu Gesellschaftsdiagnosen
Die industrielle Moderne: Das Primat des Allgemeinen
Die moderne Gesellschaft entstand Ende des 18. Jahrhunderts mit zwei gegensätzlichen Tendenzen. Einerseits stand das Allgemeine im Zentrum: Industrialisierung standardisierte Waren und Arbeit, Demokratisierung zielte auf das Allgemeinwohl, und die Aufklärung betonte Vernunft und Rationalität. Dieses „Doing Generality“ kulminierte in der industriellen Moderne von 1945 bis etwa 1975.
In dieser Ära war die Gesellschaft eine „Gesellschaft der Gleichen“, wie Pierre Rosanvallon sie nannte. Ökonomisch basierte sie auf Industrie und Massenproduktion durch Fachkräfte. Sozialstrukturell herrschte eine homogenisierte Mittelstandsgesellschaft mit einheitlichen Lebensstandards, Massenkonsum und nationaler Kultur. Politisch dominierten Volksparteien und regulierende Nationalstaaten. Gleichheit galt als Ideal – von links bis rechts –, ebenso wie Anpassung und Normalität in der „formierten Gesellschaft“.
Doch schon früh gab es Gegenbewegungen: Die Romantik betonte Individualität und Authentizität, blieb aber zunächst auf Kunst und Bürgerkultur beschränkt. Die Emotionen der Singularität kontrastierten mit der Versachlichung des Allgemeinen.
Der Aufstieg der Spätmoderne: Singularisierung als neues Leitprinzip
Seit den 1970er Jahren erodiert die industrielle Moderne, um Platz für die Spätmoderne zu machen. Hier übernehmen Besonderheit und Einzigartigkeit die Führungsrolle. Drei Hauptursachen treiben diesen Wandel voran:
Kultureller und sozialstruktureller Wandel
Beeinflusst durch die 68er-Bewegung wandeln sich Werte: Soziale Pflichten und Anpassung verlieren an Bedeutung, Selbstentfaltung und einzigartige Identitäten gewinnen. Die „Selbstverwirklichungsrevolution“ singularisiert Beruf, Partnerschaft, Freizeit und Konsum. Trägerin ist die neue Mittelklasse – Akademiker, die über Bildungsexpansion zu Lebensqualität streben.
Ökonomischer Wandel zum kulturellen Kapitalismus
Postindustrielle Gesellschaften verschieben Wertschöpfung in den Dienstleistungssektor. Konsum differenziert sich: Weg vom gesättigten Massenkonsum hin zu symbolischen Gütern, Erlebnissen und personalisierten Angeboten. Seit den 1980er Jahren mutiert die Ökonomie zu einem kognitiv-kulturellen Kapitalismus. Wissensarbeit der neuen Mittelklasse zielt auf Exzellenz und persönliche Befriedigung, nicht auf Durchschnitt.
Technologischer Wandel durch Digitalisierung
Digitale Technologien singularisieren: Im Internet und Social Media konkurrieren Inhalte um Aufmerksamkeit durch Differenz. Algorithmen personalisieren Angebote, Communities ersetzen Massenmedien. Dies vermittelt ständige individuelle Performance in einer Welt der Performances.
Singularisierung in allen Lebensbereichen
Die Gesellschaft der Singularitäten entsteht am Schnittpunkt dieser Prozesse. Singularisierung geht über Becks Individualisierung hinaus: Sie produziert permanent Einzigartigkeiten in Subjekten, Objekten, Orten, Zeiten und Kollektiven. Durchschnittliches verliert an Anerkennung – sei es der „Durchschnittsbürger“, standardisierte Waren oder routinisierte Strukturen.
In der neuen Mittelklasse, dem Leitmilieu der Spätmoderne, kulminiert dies: Hohes kulturelles Kapital verbindet Statusinvestition mit Selbstentfaltung. Sie kulturalisiert Lebensbereiche – von Ernährung bis Politik –, zieht globale Ressourcen heran und verkörpert Kosmopolitismus und Liberalismus.
Die paradoxen Folgen: Polarisierung und Krise des Allgemeinen
Konsequente Singularisierung führt zu Polarisierungen. Gewinner-Verlierer-Dynamiken entstehen, oft ökonomisiert durch Wettbewerb.
- Ökonomisch: Winner-take-most-Märkte im kognitiv-kulturellen Kapitalismus spalten Hochqualifizierte von Niedrigqualifizierten.
- Sozialstrukturell: Drei-Klassen-Gesellschaft (neue Mittelklasse, alte Mittelklasse, prekäre Klasse). Räumliche Polarisierung zwischen Metropolen und Peripherie.
- Politisch: Kosmopolitischer Liberalismus gegen neuen Populismus, der kollektive Identitäten betont.
In einer Gesellschaft, die sich am Besonderen orientiert, entsteht eine Krise des Allgemeinen: Standardisierung und Kollektivität geraten ins Abseits.
Fazit: Die Gesellschaft der Singularitäten verstehen und navigieren
Die Gesellschaft der Singularitäten markiert einen tiefgreifenden Strukturwandel der Moderne. Sie verspricht Freiheit durch Einzigartigkeit, birgt aber Polarisierungen. Für die neue Mittelklasse birgt sie Chancen, für andere Risiken. Um diese Dynamik zu meistern, lohnt ein Blick auf kulturelle, ökonomische und technologische Treiber. Entdecken Sie mehr zu gesellschaftlichen Wandlungsprozessen – teilen Sie Ihre Gedanken in den Kommentaren!
Literatur
- Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M.
- Goodhart, David (2017): The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics. London.
- Karpik, Lucien (2011): Mehr Wert. Die Ökonomie des Einzigartigen. Frankfurt/M. u. a.
- Kucklick, Christoph (2014): Die granulare Gesellschaft. Wie das Digitale unsere Gesellschaft auflöst. Berlin.
- Putnam, Robert (2015): Our Kids. The American Dream in Crisis. New York.
- Reckwitz, Andreas (2017): Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. Berlin.
- Rosanvallon, Pierre (2013): Gesellschaft der Gleichen. Hamburg.
Zitation: Reckwitz, Andreas (2019). Die Gesellschaft der Singularitäten. In: Journal für politische Bildung 1/2019, 12-17.
Der Autor
Andreas Reckwitz ist Professor für Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) und Träger des Leibniz-Preises. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Philosophie.
