Prof. Dr. mult. Wassilios Fthenakis gilt als einer der profiliertesten Experten für frühkindliche Bildung in Deutschland. Sein tiefgreifendes Fthenakis’ Bildungsverständnis umfasst sowohl systemische als auch pädagogische Ansätze. Anlässlich des Kongresses „Bewegte Kindheit“ sprach er über die „Mut zur Reform“ und erläuterte im Interview mit Karsten Herrmann, welche Reformen im deutschen Bildungssystem dringend notwendig sind und wie außerinstitutionelle Bildungsorte sowie Familien besser einbezogen werden können. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf Kindern mit Fluchterfahrungen. Dieser Artikel beleuchtet die Kernpunkte seines Verständnisses und die von ihm vorgeschlagenen Reformen.
Warum Deutschlands Bildungssystem eine grundlegende Reform braucht
Obwohl in den letzten Jahren zahlreiche Reformen am deutschen Bildungssystem vorgenommen wurden und Kindertagesstätten (KiTas) weitgehend als erste Stufe des Bildungssystems anerkannt sind, fordert Prof. Fthenakis eine umfassende strukturelle Neuausrichtung. Die empirische Forschung belegt, dass das deutsche Bildungssystem Bildungsungerechtigkeit begünstigt. Dies liegt unter anderem daran, dass Bildungseffekte beim Übergang von einer Bildungsstufe zur nächsten verloren gehen.
Übergänge im Bildungsverlauf benachteiligen zudem jüngere Kinder, Jungen, Kinder mit Migrationshintergrund und Kinder aus bildungsfernen Familien. Die Bildungsziele zerbrechen beim Übergang auf die nächste Stufe und müssen neu konstituiert werden. Die Regulierung des Systems lässt ebenfalls zu wünschen übrig, da es generell auf Nichtkommunikation und Nichtkooperation aufgebaut ist – ein Zustand, der wenig geeignet ist, hohe Bildungsqualität zu sichern. Historisch wurden Bildungssysteme von oben nach unten entwickelt, beginnend mit den Universitäten. Fthenakis betont, dass diese und viele weitere Aspekte in ein umfassendes Reformprogramm einbezogen werden müssen.
Prof. Dr. mult. Wassilios Fthenakis während eines Vortrags oder Interviews
Einige Reformen, wie die Bildungspläne, sollten eine lange Phase der Beliebigkeit im Elementarbereich beenden. Bisher dominierten jedoch Strukturdebatten, wie der Ausbau der Angebote für unter Dreijährige, welche die Bildungsqualität nur bedingt verbessern konnten. Die 16 verschiedenen Bildungspläne führen zu einer starken Diversität, was das Problem eines ungerechten Bildungssystems in Deutschland verstärkt. Mit institutionsübergreifenden Bildungsplänen, wie dem Hessischen Bildungsplan, wurde ein Anfang gemacht, der konsequent weitergeführt werden muss. Zudem wurde eine Lernortorientierung der Bildungspläne eingeleitet, deren Umsetzung auf Bundesebene noch aussteht. Wenn zukünftige Bildungssysteme nicht mehr nur auf Wissensvermittlung, sondern auf die Stärkung kindlicher Entwicklung und Kompetenzen von Anfang an fokussieren, ergibt sich die historische Chance, ein konsistentes Bildungssystem von unten nach oben zu entwickeln. Dies ist laut Fthenakis’ Bildungsverständnis die größte Herausforderung.
Fthenakis’ Bildungsverständnis: Bildung als sozialer Prozess
Prof. Fthenakis kritisiert auch die derzeitige inhaltlich-pädagogische Ausrichtung. Er fordert eine Veränderung der theoretischen Grundlage, auf der das Bildungssystem aufbaut. Konstruktivistische Positionen sollten zugunsten sozial-konstruktivistischer Ansätze verlassen werden, die ein verändertes Verständnis von Entwicklung und Lernen implizieren, das den Prämissen des 21. Jahrhunderts besser entspricht. Es sei an der Zeit, Bildung nicht primär als individuellen, kindzentrierten, sondern als sozialen Prozess zu verstehen, der in einen sozialen und kulturellen Kontext eingebettet ist und sowohl von Fachkräften und Eltern als auch von Kindern aktiv ko-konstruiert wird.
Wird diese Position akzeptiert, folgt daraus die Einführung eines neuen didaktischen Konzepts – der Ko-Konstruktion – das eine höhere Bildungsqualität sichern kann. Ein solches Konzept verändert nicht nur die Qualität der Fachkräfte-Kind-Beziehung, sondern hat auch gravierende Folgen für die Organisation von Bildungsprozessen und -systemen. In dialogisch organisierten Gesellschaften haben Kinder selbst die Qualität ihres Lernprozesses verändert: Anstelle des individuellen Lernens tritt das kooperative Lernen in den Vordergrund. Zudem verändern neue Technologien nicht nur das Leben, sondern auch die Art und Weise, wie wir lernen. Während Bildungssysteme bislang ausschließlich auf die reale Welt der Kinder fokussiert waren, ist die virtuelle Welt eine neue Realität für jedes Kind geworden. Die konstruktive Verbindung dieser beiden Welten zur Bereicherung individueller kindlicher Bildungsbiographien bleibt eine Herausforderung. Nicht zuletzt wurde die Ausbildungsqualität der Fachkräfte vernachlässigt. Da alles mit Ressourcen zusammenhängt, muss die Finanzierung des Bildungssystems hinsichtlich Höhe und Prioritäten neu überdacht werden. Wenn wir unsere Kinder auf eine tiefgreifend veränderte Welt vorbereiten möchten, sind Reformen auf all diesen Ebenen unverzichtbar. Dabei sollte berücksichtigt werden, dass hohe Bildungsqualität eher über Prozesse als über Strukturen gesichert werden kann. Es mangelt nach wie vor an ausgearbeiteten Konzepten zur Organisation von Bildungsprozessen, ein erfahrungsgeleitetes Paradigma dominiert, fachliche Begründungen sind eher die Ausnahme.
Die Rolle von Spiel, Sport und Bewegung in der frühkindlichen Entwicklung
Der Kongress „Bewegte Kindheit“ ist eine etablierte Plattform für die frühe Bildung in Deutschland und bietet den idealen Rahmen, um die von Prof. Fthenakis geäußerten Gedanken zu diskutieren. Er ermöglicht nicht nur einen Dialog über die Themen „Spiel, Sport und Bewegung“, sondern zeigt auch eindrucksvoll, wie am Beispiel dieser Bildungsbereiche Reformen für die frühe Kindheit und das Bildungssystem insgesamt initiiert und umgesetzt werden können.
Diese Bildungsbereiche eignen sich hervorragend, um eine neue Lernort-Orientierung zu etablieren und können für bereichsübergreifendes Lernen genutzt werden. Gerade darin liegt der Reiz dieses Kongresses und seine innovative Wirkung. Professor Renate Zimmer und das nifbe verdienen für ihre Arbeit in diesem Kontext großen Respekt und Anerkennung.
Die Bedeutung außerschulischer Bildungsorte und die Integration von Flüchtlingskindern
Die Forschung liefert seit den 1960er Jahren konsistent den Befund, dass außerinstitutionelle Faktoren die kindliche Entwicklung in höherem Maße bestimmen als bildungsinstitutionelle. Nach dem Paradigmenwechsel, der moderne Bildungssysteme auf die Stärkung kindlicher Entwicklung und Kompetenz statt nur auf Wissensvermittlung fokussiert, erfolgte eine Neubestimmung dieser Bildungsorte. Neuere Bildungspläne beziehen sie direkt ein, und weltweit werden Forschungen initiiert und konkrete Maßnahmen eingeleitet.
Es liegt hinreichende Forschungsevidenz aus Kanada, Deutschland und anderen Ländern vor, die nahelegt, die Ressourcen des sozialen Umfelds unserer Kinder stärker in das Bildungskonzept einzubeziehen. Aktuell stehen wir vor der Herausforderung, Kinder mit Fluchterfahrung in Deutschland aufzunehmen und geeignete Angebote bereitzustellen. Bisherige Erfahrungen und Forschungsbefunde zeigen ein doppeltes Problem: Erstens erwies sich das bisherige Bildungsangebot als bedingt geeignet, diesen Kindern in Bildungsinstitutionen zu helfen, und zweitens wurde die Erwartung, über einen Bildungsansatz auch Integration zu erreichen, nicht erfüllt. Deshalb empfiehlt Prof. Fthenakis einen anderen Weg, nämlich eine Kombination aus einem erweiterten Bildungsansatz und einem Integrationsansatz.
Lediglich auf die Stärkung der Sprachkompetenz im Deutschen zu bestehen, reicht nicht aus, um diesen Kindern effektiv zu helfen. Neben dem Erwerb der Sprachkompetenz müssen weitere Kompetenzen in den Fokus rücken: die Stärkung der Widerstandsfähigkeit zur Bewältigung traumatischer Erfahrungen, die Stärkung des Selbstkonzepts, um den Mut aufzubringen, erworbene Sprachkenntnisse für kommunikative Zwecke einzusetzen, und vieles mehr. Gleichzeitig sollte Kindern und ihren Familien geholfen werden, eine positive soziale und kulturelle Einbettung in ihrer neuen Umgebung zu erreichen. Das von Prof. Fthenakis entwickelte MAPpy-Konzept leistet diese Aufgabe und nutzt zugleich neue Technologien. Kindern und ihren Familien wird die unmittelbare Umgebung aus einer Ressourcen-Perspektive präsentiert. Ihnen wird geholfen, ein klares Bild von ihrer Umgebung zu entwickeln, das Orientierung und Sicherheit ermöglicht. Sie lernen, verfügbare Ressourcen ihrer neuen Umgebung zu nutzen, soziale und Arbeitskontakte zu knüpfen, angebotene Hilfen in Anspruch zu nehmen und so ihre Integration zu erreichen.
Etablierung echter Bildungspartnerschaften mit Familien
Die Familie spielt nach wie vor eine zentrale Rolle in der Bildungsbiografie von Kindern. Lange Zeit wurden außerfamiliale Angebote von denen der Familie und Grundschule abgegrenzt. Die Theorie der separaten Welten geriet unter dem Druck der Familien in Frage, und das Konzept der „Elternarbeit“ wurde eingeführt, das sich jedoch als wenig effizient und kaum befriedigend erwies. In den von ihm verantworteten Bildungsplänen hat Prof. Fthenakis deshalb das Konzept der „Bildungspartnerschaft“ eingeführt. Dieses bietet eine Alternative zur bisherigen Elternarbeit und hat eine neue Qualität im Verhältnis und im Umgang der Bildungsorte untereinander geschaffen.
In der bisherigen Auslegung der „Elternarbeit“ dominierte die institutionelle Perspektive. Möglichkeiten einer Mitwirkung durch die Familie waren beschränkt und meist vor dem Hintergrund bildungsinstitutioneller Interessen legitimiert. Die Beziehung zwischen Bildungsinstitution und Familie war asymmetrisch organisiert, zu Lasten der Familie, während weitere Bildungsorte weitgehend vernachlässigt wurden. Eine Mitwirkung im Sinne einer Ko-Konstruktion war weder dem Verständnis noch den konkreten Formen nach gegeben.
Die „Bildungspartnerschaft“ stellt einen genuin veränderten Rahmen zur Kooperation zwischen Familie, Bildungsinstitutionen und weiteren Bildungsorten bereit. Sie beruht auf der Annahme, dass kindliche Entwicklung und Bildung sich an verschiedenen Orten, in erster Linie in der Familie, vollziehen. Mit Hilfe der Bildungspartnerschaft werden die Ressourcen all dieser Bildungsorte in den Dienst der kindlichen Entwicklung gestellt. Sie verpflichtet alle Ko-Konstrukteure zu einer kooperativen, symmetrisch organisierten Haltung. Voraussetzung dafür ist die geteilte Bereitschaft, ko-konstruktiv, auf der Grundlage gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung, den Diskurs zu gestalten. Der bildungsinstitutionelle Beitrag legitimiert keinen besonderen Machtanspruch und keine privilegierte Stellung im Kontext der Ko-Konstrukteure. Jüngst wurde der familiäre Alltag zu dem für das Kind wichtigsten Bildungsort konzeptualisiert – eine konkrete Möglichkeit, wie man außerinstitutionelle Ressourcen stärken kann und sollte.
Eltern weisen heute einen hohen Bildungs- und Informationsstand auf. Durch fortschreitende Individualisierung und (kulturelle) Vielfalt der Familienformen, aber auch durch die starke Bereitschaft der Eltern, in die Bildung ihrer Kinder zu investieren, verändert sich die Familienlandschaft radikal. Alte Konzepte greifen nicht mehr. In den letzten zehn Jahren gab es eine Vielzahl von Publikationen, die konkrete Hilfen bereitstellen, um den Beitrag der Familien mit dem der Bildungsinstitutionen sinnvoll und produktiv zu verknüpfen. Empirische Studien, wie das „Effektive Provision of Pre-School Education“-Projekt (EPPE) aus England, zeigten, dass „gute“ von „weniger guten“ Einrichtungen sich dadurch unterscheiden, dass sie eine enge Kooperation mit den Familien ihrer Kinder pflegten. Diese Erkenntnisse waren bereits aus den Evaluationsstudien des Head Start Programms der 1960er Jahre in den USA bekannt. Was heute benötigt wird, ist eine elaborierte Konzeption, um die Kooperation zwischen Familien und Bildungsinstitutionen über alle Phasen des Bildungsverlaufs hinweg zu ermöglichen. Dies stellt nach wie vor eine Herausforderung dar.
Reformen im deutschen Bildungswesen: Geduld, Hartnäckigkeit und Optimismus
Prof. Fthenakis betont, dass Reformen in Deutschland auf verschiedenen Ebenen wirken müssen: Auf der individuellen Ebene bedarf es einer Änderung unserer Haltung und der Bereitschaft, unsere Konzepte zu verändern. Auf der strukturellen Ebene müssen solche Reformen in 16 Bundesländern umgesetzt werden. Beides zusammen verlangsamt den Reformprozess und bringt das Land in die Defensive, was sich auf allen Ebenen des Reformprozesses manifestiert, am eindrucksvollsten bei der virtuellen Transformation.
Die Nicht-Verabschiedung oder Nichtinitiierung eines Bundesqualitätsgesetzes ist ein Beispiel dafür, wie überfällige Reformen in Deutschland behindert werden. Seine über 50-jährige Erfahrung, teils als aktiver Mitgestalter solcher Reformprozesse, lehrt ihn, dass die dafür benötigte Zeit länger dauert als anderswo, der Reformprozess jedoch, wenn er einmal begonnen hat, konsistent seinen Weg weitergeht. Man benötige Geduld, Hartnäckigkeit im Sinne der Konsistenz, eine gute Portion Optimismus und manchmal ein wenig Glück. Trotzdem dürfe man sich in Zeiten schnellen Wandels nicht den Luxus erlauben, Reformen nicht rechtzeitig einzuleiten und nicht mit dem notwendigen Tempo zu begleiten. Denn wer zu lange an der Vergangenheit festhält, verpasst oft die Zukunft.
Zusammenfassend zeigt Fthenakis’ Bildungsverständnis einen klaren Weg auf: Eine tiefgreifende Bildungsreform ist unerlässlich, um Bildungsungerechtigkeit zu bekämpfen, Kinder optimal auf die Zukunft vorzubereiten und echte Partnerschaften zwischen allen Akteuren zu etablieren. Es erfordert Mut, Geduld und eine gemeinsame Vision, um das deutsche Bildungssystem nachhaltig zu stärken und seine Position im internationalen Vergleich zu behaupten. Es liegt an uns, diese Impulse aufzugreifen und die notwendigen Schritte für eine bessere Bildungszukunft einzuleiten.
