Deutschland vor dem Finanzsystem-Kollaps? Ein Weckruf

Ein Diagramm, das die volatile Natur von Finanzmärkten illustriert, mit auf- und absteigenden Linien, die Marktpreise repräsentieren.

ANALYSE: Finanzkrisen scheinen sich zu häufen und zu verschärfen. Arbeitnehmer und Steuerzahler tragen oft die Hauptlast. Eine wissenschaftliche Perspektive auf die Ursachen dieser Krisen und mögliche Lösungsansätze. Von Helge Peukert

HELGE PEUKERT ist Professor für Finanzwissenschaft und Finanzsoziologie an der Universität Erfurt und Autor des Buches „Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise“.

Der Unterschied zwischen dem Verkauf von Äpfeln und der Vergabe von Krediten ist fundamental. Wenn ein Käufer Äpfel verrotten lässt, muss der Verkäufer dies nicht beunruhigen. Werden jedoch Kredite „faul“ und nicht zurückgezahlt, kann dies den Kreditgeber – und durch die hohe Vernetzung das gesamte Finanz- und Wirtschaftssystem – in den Abgrund reißen. Der Finanzsektor ist von Natur aus systemisch. Einzelne große Institute, die aufgrund ihrer Größe nicht scheitern dürfen („too big to fail“), können das gesamte Wirtschaftssystem gefährden. Hinzu kommt: Steigen die Preise von Äpfeln, wird mehr geerntet und weniger nachgefragt. Steigen jedoch Aktienkurse, erhöht sich die Menge der angebotenen Aktien nicht proportional, und sehr oft steigt die Nachfrage nach den teureren Aktien in der Hoffnung auf weiter steigende Kurse. Finanzmärkte agieren daher in der Regel prozyklisch. Da Erwartungen über zukünftige Ereignisse – wie die Preisentwicklung von Währungen, Aktien oder Staatsanleihen – eine entscheidende Rolle spielen und in dynamischen Märkten prinzipiell nicht vorhersehbar sind, orientieren sich Akteure verstärkt am Urteil anderer. Dies führt zu Herdenverhalten und, mangels Transparenz, zu plötzlichen, abrupten Vertrauensverlusten in die Zahlungsfähigkeit einer Bank. Die Stimmung schwankt zwischen manisch und depressiv, wie in den letzten Jahren bei der Bewertung europäischer Staatsanleihen zu beobachten war.

Weitere Besonderheiten des Finanzsektors verdienen Beachtung: Echte Innovationen bei Finanzprodukten sind rar. Höhere Gewinne werden daher primär durch die Kreation immer komplexerer und undurchschaubarerer Produkte erzielt. Um die Profitabilität zu steigern, verfügen Finanzinstitute oft nur über eine äußerst geringe Eigenkapitalbasis als Puffer. Durch einen hohen Fremdkapitalanteil werden Investitionen „gehebelt“ (Leverage), was zu enormen Gewinnen oder Verlusten führen kann, für die man jedoch mit wenig Eigenkapital haftet, wenn etwas schiefgeht. Dies macht die Akteure wagemutig – mit den entsprechenden emotionalen Begleiterscheinungen wie Gier oder Angst, die rationale Entscheidungen erschweren. Wer durch risikofreudiges Agieren in einem Jahr ein Jahresgehalt plus Boni erwirtschaften kann, für das ein normaler Arbeitnehmer ein ganzes Leben bräuchte, stürzt sich oft adrenalinsüchtig ins nächste Risiko. Im schlimmsten Fall droht die Entlassung, gefolgt von einer wahrscheinlichen Neueinstellung anderswo. Zur (Selbst-)Beruhigung greifen Investmentbanken auf Risikomodelle zurück, die Ereignisse wie die Finanz- und Staatsschuldenkrise ausschließen, da sie auf Vergangenheitsdaten basieren, etwa die des amerikanischen Wohnungsmarktes, dessen Preise seit den 1980er Jahren stetig stiegen und man annahm, dies würde ewig so weitergehen. Da nahezu alle Akteure in Boomphasen vom steigenden Handelsvolumen und der Schaffung neuer Finanzprodukte profitieren können, haben bestimmte Bereiche der Finanzmärkte Dimensionen erreicht, die zuvor unbekannt waren. So übersteigt der Umsatz der Finanzmärkte heute das weltweite BIP um das fast 60-fache.

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Die schiere Größe des Finanzsektors ist umso erstaunlicher, als er eigentlich eine dienende Funktion für die Realwirtschaft erfüllen sollte. Banken sollen als Vermittler fungieren, die Überschüsse der Sparer den Investoren zur Verfügung stellen und dabei verantwortungsvolle Entscheidungen treffen. Doch gerade viele mittelständische Unternehmen erfahren aus eigener Erfahrung, dass Banken oft stärker in spekulative Derivatgeschäfte verwickelt sind – in Wetten auf die Preisentwicklung von Aktien oder Devisen.

Diese Überlegungen führen zu einigen notwendigen Schlussfolgerungen. Zunächst muss die Regulierung den Finanzinstituten auf Augenhöhe begegnen und demokratisch sowie auf internationaler Ebene erfolgen. Davon sind wir weit entfernt: Weder die G20 noch der Baseler Ausschuss oder das Financial Stability Board sind demokratisch legitimiert oder Ausdruck einer abgestimmten Politarchitektur. Auf europäischer Ebene existieren gleich drei Aufsichtsbehörden – für Banken (EBA), Versicherungen (EIOPA) und Wertpapiere (ESMA) –, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen und zudem über keine ausreichenden Mittel und Durchgriffsrechte verfügen.

In einer Marktwirtschaft dürfen einzelne Unternehmen nicht so groß sein, dass sie dadurch quasi-monopolistische Wettbewerbsvorteile oder ein Drohpotenzial gegenüber der Politik entwickeln. Hieraus folgt die Notwendigkeit einer Größenbegrenzung von Finanzinstituten auf europäischer oder globaler Ebene, beispielsweise bei 100 Milliarden Euro Bilanzsumme. Ab dieser Schwelle sind keine Leistungsvorteile durch Größe mehr zu erwarten. Zum Vergleich: Die Deutsche Bank weist eine Bilanzsumme von über zwei Billionen Euro auf.

Darüber hinaus ist für deutlich mehr Eigenkapital zu sorgen. Dank der Risikogewichtungen des bisherigen Regulierungspakets Basel II können sich Banken schönrechnen: Für europäische Staatsanleihen beispielsweise ist gar kein Eigenkapital zu hinterlegen, und für Interbankenkredite gilt statt der sonst üblichen acht Prozent lediglich eine Gewichtung von 1,6 Prozent. Ein pauschaler Eigenkapitalanteil von 30 Prozent für alle Kredite, ohne Gewichtungen, wäre wahrscheinlich ausreichend, damit Finanzinstitute auch echte Krisen selbst abfedern können. Hierbei müssten auch Hedgefonds und Investmentfonds einbezogen werden, da sie Kredite bei Banken aufnehmen und somit eng mit ihnen verflochten sind. Die ständige Überwälzung der Krisenkosten auf den Steuerzahler wird auch durch die Vermischung von Geschäfts- und Investmentbanken begünstigt. Universalbanken können jederzeit drohen, dass ohne ihre Rettung der allgemeine Zahlungsverkehr sowie das Einlagen- und Kreditgeschäft zusammenbrechen. Daher sollte eine institutionelle Trennung zwischen Geschäfts- und Investmentbanken erfolgen: Girokonten dürfen nur bei reinen Geschäftsbanken geführt werden, die keine Kredite an Investment- und Schattenbanken (Hedgefonds) vergeben dürfen. Zur Schrumpfung des spekulativ aufgeblähten Finanzsektors kann auch eine Finanztransaktionssteuer dämpfend wirken. Ob die von der EU vorgesehene Besteuerung von Derivaten mit 0,01 Prozent ausreicht und ob eine Einführung nur in einer Kern-Eurozone ohne Großbritannien wirksam ist, wird sich zeigen. Eine durchgreifende Wirkung hätte eine Gewinnbesteuerung in Abhängigkeit von der Haltedauer: unter einer Stunde beispielsweise 100 Prozent oder unter einer Woche 80 Prozent.

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Geschäfte, die nicht über eine Börse laufen – sogenannte Over-the-Counter-(OTC)-Geschäfte – wären aus Gründen der Transparenz ebenso prinzipiell zu untersagen wie Leerverkäufe und Kreditausfallversicherungen, englisch: Credit Default Swaps (CDS), unabhängig davon, ob sie gedeckt oder ungedeckt sind. Gedeckt bedeutet, dass man sich beispielsweise eine Aktie ausleiht, sie sofort verkauft und vor dem vereinbarten Rückgabezeitpunkt am Markt neu kauft in der Hoffnung, dass die Aktie inzwischen billiger geworden ist. Ein Verbot ist notwendig, weil mit Leerverkäufen und CDS Märkte manipuliert werden können, was sich deutlich in der momentanen Staatsschuldenkrise zeigt. Das ungesunde Volumen von Derivaten, die oft zu höheren Preisschwankungen führen und destabilisierend wirken, könnte durch höhere Hinterlegungspflichten begrenzt werden: Für ein Währungsderivat müssten nicht mehr nur fünf Prozent des Nennwerts hinterlegt werden, sondern beispielsweise 25 Prozent. Wetten auf die Kursentwicklung von Staatsanleihen, die derzeit die Eurozone unter Druck setzen, würden somit für institutionelle Investoren so unattraktiv werden, dass sich die Fragen nach der Staatsverschuldung nicht mehr stellen würden.

„Wenn man faule und gesunde Äpfel in eine Kiste legt, kann man die Uhr danach stellen, bis alle Äpfel faul sind“, schrieb Anfang Dezember ein Leserbriefschreiber im „Spiegel“. „Dies gilt für die Gemeinschaftswährung, Eurobonds und andere Rettungsmaßnahmen.“ Manchmal ist der Unterschied zwischen Äpfeln und Krediten eben doch nicht so groß.

Ein Diagramm, das die volatile Natur von Finanzmärkten illustriert, mit auf- und absteigenden Linien, die Marktpreise repräsentieren.Ein Diagramm, das die volatile Natur von Finanzmärkten illustriert, mit auf- und absteigenden Linien, die Marktpreise repräsentieren.

Ein Blick auf die Verflechtung von Aktienkursen und Nachfrage verdeutlicht die prozyklische Natur der Finanzmärkte.

Das Konzept des „Too Big To Fail“ stellt eine fundamentale Gefahr für die globale Finanzstabilität dar. Wenn ein Institut zu groß ist, um scheitern zu dürfen, entsteht ein Moral Hazard.

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Die Notwendigkeit einer stärkeren Regulierung des Finanzsektors ist offensichtlich, um die Stabilität des Systems zu gewährleisten und die Steuerzahler zu schützen.

Eine Reform des Finanzsystems erfordert mutige politische Entscheidungen und eine klare Trennung zwischen Geschäfts- und Investmentbanking.

Fazit

Die Analyse zeigt unmissverständlich: Die aktuellen Strukturen des Finanzsystems sind anfällig und bergen erhebliche Risiken. Die Konsequenzen spüren nicht nur die institutionellen Akteure, sondern auch die breite Bevölkerung in Form von Krisenfolgen und unsicheren Zukunftsaussichten. Um einem vollständigen Finanzsystem Am Ende entgegenzuwirken, bedarf es einer tiefgreifenden Reform. Nur durch konsequente regulatorische Maßnahmen, eine Stärkung der Eigenkapitalbasis von Finanzinstituten und eine klare Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken kann ein resilienteres und gerechteres Finanzsystem für Deutschland und Europa geschaffen werden. Es ist an der Zeit, die Weichen neu zu stellen, bevor die nächste Krise unausweichlich zuschlägt.

Weitere Lektüre und Informationen

Helge Peukert: Die große Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise. Marburg, Metropolis-Verlag, Oktober 2011.
Sony Kapoor: Die Finanzkrise – Ursachen & Lösungen. Düsseldorf 2011.