In einer sich ständig wandelnden Wirtschaftslandschaft sind Disruptive Geschäftsmodelle der Schlüssel zu nachhaltigem Erfolg und Innovation. Sie repräsentieren Sprunginnovationen, die nicht nur neue Märkte erschließen, sondern oft auch etablierte Geschäftsmodelle, Produkte und Dienstleistungen grundlegend verändern oder gänzlich ablösen. Das bekannteste Beispiel für ein disruptives Produkt ist wohl das erste iPhone von Apple, das den damaligen Marktführer Nokia nachhaltig verdrängte. Doch die Faszination disruptiver Geschäftsmodelle liegt in ihrer subtilen, aber weitreichenden Wirkung: Viele dieser Modelle werden von Millionen Menschen täglich genutzt, ohne dass die zugrunde liegende Disruption bewusst wahrgenommen wird.
Dieser Artikel beleuchtet verschiedene Formen disruptiver Geschäftsmodelle, erläutert die entscheidenden Fragen zu ihrer Entwicklung und zeigt auf, wie Unternehmen – vom Startup bis zum Mittelständler – ihre eigenen Modelle zukunftssicher gestalten können.
Kernmerkmale disruptiver Geschäftsmodelle
Disruptive Geschäftsmodelle zeichnen sich durch spezifische Mechanismen aus, die ihnen ermöglichen, bestehende Märkte aufzubrechen und neue Wertschöpfung zu generieren. Hier sind einige prominente Strategien:
Den Marktplatz kontrollieren
Eine überaus erfolgreiche Strategie ist die Schaffung und anschließende Kontrolle eines digitalen Marktplatzes. Unternehmen wie Amazon, Alibaba oder auch Apple mit seinem App Store sind Paradebeispiele dafür. Diese Giganten sind die weltweit größten Einzelhändler, ohne selbst physische Waren zu besitzen. Amazon begann einst mit dem Verkauf von Büchern über seine Plattform. Durch die spätere Öffnung für Drittanbieter konnte ein immens breites und individuelles Angebot für Kunden geschaffen werden. Dieser Schritt etablierte einen digitalen Kontrollpunkt zum Kunden, der traditionelle Anbieter zu reinen Zulieferern degradierte und das gesamte Ökosystem transformierte. Die Fähigkeit, Kundendaten und Transaktionen zu zentralisieren, verleiht diesen Plattformen eine immense Macht und einen tiefgreifenden Einblick in Marktanforderungen, was sie zu Vorreitern in zukünftige Technologien macht.
Ressourcen effizient vereinen
Ein weiteres exemplarisches disruptives Geschäftsmodell basiert auf der effizienten Orchestrierung und Bündelung vorhandener, externer Ressourcen, um einen enormen Kundennutzen zu schaffen. Prominente Beispiele sind Uber, das größte Taxiunternehmen der Welt ohne eigene Fahrzeuge, und Airbnb, der größte Übernachtungsanbieter ohne eigene Immobilien. Auch hier ist eine digitale Plattform das Herzstück, die fremde Ressourcen wie Fahrzeuge oder Wohnungen bündelt und Kunden zugänglich macht. Dies führt zu einer Win-Win-Situation für alle Beteiligten: Anbieter können ungenutzte Ressourcen monetarisieren, während Kunden vergleichsweise günstig Wegstrecken zurücklegen oder Unterkünfte mieten können. Dieses Modell zeigt, wie Effizienz und Vernetzung traditionelle Dienstleistungen revolutionieren können.
Daten aggregieren
Unternehmen wie Google, Facebook, Xing oder LinkedIn nutzen ein weiteres mächtiges digitales Geschäftsmodell: die Aggregation von Daten. Ein Großteil ihrer Dienste wird den Endkunden kostenlos angeboten. Durch die überlegenen Leistungen, etwa kostenlose Navigation mit Google Maps, erhalten diese Unternehmen immense Nutzerdaten, wie Bewegungsdaten oder Suchanfragen. Diese Daten sind für andere Unternehmen von hohem Wert. Durch die großflächige Aggregation, Analyse und Auswertung dieser Nutzerdaten verfügen Unternehmen wie Google über ein tiefgreifendes Verständnis ihrer Kundenbedürfnisse und erlangen so oft ein Quasi-Monopol auf relevante Kundeninformationen. Dieses Wissen wird anschließend an werbetreibende oder interessierte Unternehmen verkauft und bildet die Grundlage für hochprofitable Geschäftsmodelle, die eng mit der Entwicklung von Künstliche Intelligenz verknüpft sind.
Die vier Säulen der Geschäftsmodellentwicklung: Die W-Fragen
Um das eigene Geschäftsmodell gezielt weiterzuentwickeln und auf seine Zukunftsfähigkeit zu prüfen, ist es unerlässlich, die richtigen Fragen zu stellen. Vier zentrale W-Fragen dienen dabei als effektiver Prüfstand für das aktuell praktizierte Geschäftsmodell:
1. Wer sind unsere Zielkunden?
Diese Frage mag trivial erscheinen, ist aber in historisch gewachsenen Unternehmen oft schwer eindeutig zu beantworten. Im operativen Tagesgeschäft kann der Überblick über das eigentliche Kerngeschäft und die verschiedenen Kundensegmente leicht verloren gehen. Doch die präzise Kenntnis der Zielkunden ist entscheidend, um deren vielfältigen Bedürfnissen gerecht zu werden. Kennen Sie Ihre verschiedenen Kunden und deren differenzierte Anforderungen? Bedienen Sie all diese unterschiedlichen Bedürfnisse optimal? Hier setzt die zweite Frage an.
2. Was bieten wir unseren Kunden an?
Mit welchen Produkten und Dienstleistungen reagieren Sie auf die Bedürfnisse Ihrer Kunden? Wie unterscheiden sich die einzelnen Angebote in Abhängigkeit vom Kunden, und woher rühren diese Unterscheidungen? Besonders im Softwarebereich entstehen oft Lösungen, bei denen die tatsächlichen Kundenanforderungen unklar sind. Dies führt zur Entwicklung von Funktionen, die der Kunde nicht verlangt, aber letztlich mitbezahlt. Die Folge sind oft nur mäßige Kundenbeziehungen und im schlimmsten Fall unzufriedene Kunden. Um dies zu vermeiden, sollten die angebotenen Produkte eng auf die jeweilige Kundengruppe abgestimmt sein und deren spezifische Anforderungen erfüllen. Dazu ist es unerlässlich, Kunden aktiv nach ihren Anforderungen zu befragen und diese Erkenntnisse in die Entwicklung neuer Produkte einfließen zu lassen. Dies führt uns zur dritten Frage.
3. Wie stellen wir unsere Leistung her?
Welche Schlüsselressourcen und Schlüsselpartner sind für die Herstellung unserer Produkte und Dienstleistungen notwendig? Wie gehen wir bei der Erstellung unserer Angebote vor? Hier gibt es verschiedene Ansätze, die von „Wir wissen schon, was unsere Kunden brauchen“ bis hin zu „Wir fragen unsere Kunden, was sie brauchen und machen genau das“ reichen. Der goldene Weg liegt oft in der Mitte, da jeder Kunde individuelle Anforderungen hat. Eine 70-80%ige Überschneidung der Anforderungen innerhalb einer Kundengruppe kann eine solide Basis für Individualisierungen darstellen und so Massenproduktion mit Losgröße 1 effektiv verknüpfen. Ebenso wichtig ist es zu wissen, von wem die Leistungserstellung abhängt. Besteht Ihr Angebot beispielsweise aus einer digitalen Plattform, sind hochqualifizierte IT-Fachkräfte und Programmierer unerlässlich für den Erfolg Ihres Produkts. Das Zusammenspiel aus Kunde, Produkt und Herstellung führt zur letzten Frage.
4. Wie wird der Wert erzielt?
Die finale Frage fokussiert auf das Verhältnis von Einnahmen und Ausgaben. Welche finanziellen Mittel benötigt ein Unternehmen für Ressourcen, um die angebotene Leistung zu erstellen? Worin liegt der eigentliche Wert des angebotenen Produktes für den Kunden? Im Fall von Amazon liegt der zentrale Wert für den Endkunden – die Käufer auf der Plattform – unter anderem in der bequemen Bestellung aller möglichen Artikel über eine zentrale Plattform, dem Käuferschutz und der schnellen Lieferung. Diese spezifischen Werte für den Kunden gilt es für die eigenen Produkte präzise herauszuarbeiten, um sich von der Konkurrenz abzuheben und neue disruptive Geschäftsmodelle zu entwickeln.
Aus der Kombination der drei Fragen „Wer?“, „Wie?“ und „Wert?“ mit dem zentralen „Was?“ resultieren die drei Kernstränge eines Geschäftsmodells: das Nutzenversprechen, die Wertschöpfungskette und die Ertragsmechanik.
Diagramm zur Geschäftsmodellentwicklung basierend auf den vier W-Fragen: Wer, Was, Wie, Wert und deren Auswirkungen auf Nutzenversprechen, Wertschöpfungskette und Ertragsmechanik.
Das Business Model Canvas (BMC) als Analysewerkzeug
Für die Beantwortung der angeführten Fragen und zur systematischen Analyse des eigenen Geschäftsmodells existieren verschiedene bewährte Methoden, darunter das Business Model Canvas (BMC). Mit Hilfe des BMC lassen sich Geschäftsmodelle in kurzer Zeit übersichtlich darstellen und effektiv weiterentwickeln, da es auf einer A4-Seite alle relevanten Komponenten abbildet. In Workshops erarbeiten Teams zunächst das aktuelle Geschäftsmodell. Als Grundlage dient die tabellarische Vorlage des BMC mit neun zentralen Feldern.
Die Vorteile dieser Methode sind vielfältig:
- Ein klarer Ordnungsrahmen für den abstrakten Begriff des Geschäftsmodells.
- Ein einfacher und intuitiver Aufbau.
- Schnelle und produktive Zusammenarbeit in Teams.
- Das gesamte Geschäftsmodell wird auf einer einzigen A4-Seite dargestellt, was die Übersichtlichkeit fördert.
- Die Verwendung von Post-its zwingt dazu, Inhalte durch begrenzten Platz auf den Punkt zu bringen.
- Das schnelle Erkennen von Abhängigkeiten innerhalb des Geschäftsmodells.
- Die Schaffung eines einheitlichen Verständnisses im Team über die Bedeutung der einzelnen Bestandteile.
Bei der Durchführung solcher Workshops empfehlen wir einen externen Moderator, der Ihr Geschäftsmodell nicht von innen kennt. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Unternehmen und ihre Mitarbeiter oft zu tief im Thema verwurzelt sind, was es erschwert, eine übergeordnete, objektive Sichtweise einzunehmen. Ein externer Moderator kann sicherstellen, dass sich die Teilnehmer nicht in Details verlieren, und durch seine unvoreingenommene Perspektive Fragen stellen, die das Unternehmen maßgeblich voranbringen und oft neue Blickwinkel eröffnen, die intern nur schwer zu gewinnen wären.
Praxisbeispiel: Die Bäckerei Frisch und ihr erweitertes Geschäftsmodell
Der Gründer und Inhaber der Bäckerei Frisch besitzt fünf Filialen in einer großen Kreisstadt im ländlichen Raum. Angesichts der digitalen Transformation und zunehmender Konkurrenz durch Backwaren in Discountern überlegt Herr Frisch, wie er digitale Technologien nutzen kann, um sein Angebot attraktiver zu gestalten und neue Kunden zu gewinnen. Im Rahmen eines Basis-Workshops des Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrums Chemnitz wurde zunächst das aktuelle Geschäftsmodell mittels BMC erarbeitet.
Business Model Canvas des aktuellen Geschäftsmodells einer traditionellen Bäckerei zur Analyse der Kernkomponenten.
Erweiterung des Geschäftsmodells
Aufbauend auf dem aktuellen Geschäftsmodell wurden verschiedene Ideen und Chancen für die Weiterentwicklung der Bäckerei Frisch erarbeitet. Eine dieser Ideen war die Entwicklung einer App, die Kunden die Möglichkeit bietet, vorab zu sehen, welche Produkte in welcher Filiale noch verfügbar sind. So können Kunden ihre Wunschprodukte reservieren und müssen nicht umsonst zur Filiale fahren. Darüber hinaus könnten bestehende Kunden über die App Produkte für Nachbarn und Freunde mitbringen, die es aus zeitlichen oder organisatorischen Gründen nicht in die Bäckereifilialen schaffen. Mit diesen innovativen Ansätzen wurde das bestehende Geschäftsmodell erweitert.
Durch das erweiterte Geschäftsmodell kann die Bäckerei Frisch ihren Kunden neue Mehrwerte bieten. Zum einen werden dadurch neue Kundengruppen erschlossen, zum anderen wird das bestehende Sortiment um regionale Produkte wie Honig und Marmelade aus der Region erweitert. Kunden erhalten so die Möglichkeit, den passenden Aufstrich in derselben regionalen Qualität direkt mit den gekauften Backwaren zu erwerben. Über eine Servicegebühr für den Verkauf bäckereifremder Produkte werden zudem zusätzliche Einnahmen generiert. Gleichzeitig erhalten regionale Anbieter eine neue Plattform, die bei Erfolg weiter skaliert werden kann.
Die Kosten für die Programmierung einer App und die dahinterliegende Datenbank lassen sich durch die Gewinnung von Neukunden relativ schnell ausgleichen. Zudem können die Ideen schnell und einfach prototypisch getestet werden, noch bevor die eigentliche App programmiert werden muss. Hierbei empfehlen wir eine nutzerzentrierte Vorgehensweise. Dabei werden die Bedürfnisse der Kunden frühzeitig aufgenommen, einfache Prototypen gebaut und gemeinsam mit den Kunden evaluiert. Dadurch wird eine hohe Gebrauchstauglichkeit der Software sowie anderer Services sichergestellt.
Inspiration für neue Geschäftsmodelle
In der Literatur existiert eine Vielzahl von möglichen Geschäftsmodellen, die sich auf verschiedene Bereiche übertragen und anwenden lassen. Eine hervorragende Übersicht bieten die 55 Geschäftsmodelle von Gassmann[3]. Hier werden gängige Geschäftsmodelle wie “Add-on” oder “Pay-per-Use” einfach und anschaulich erläutert. Solche Sammlungen sind eine unschätzbare Quelle, um neue Ideen für die Weiterentwicklung des eigenen Geschäftsmodells zu gewinnen und Potenziale für Disruption zu identifizieren.
Die folgenden Schritte fassen die Erkenntnisse zusammen und können genutzt werden, um Ihr Geschäftsmodell weiterzuentwickeln und zukunftsfähig zu gestalten:
- Planen Sie einen Workshop mit zentralen Akteuren im Unternehmen und einem externen Moderator.
- Analysieren Sie Ihr aktuelles Geschäftsmodell systematisch mit dem Business Model Canvas.
- Identifizieren Sie Ihre Kundensegmente und die damit verbundenen Nutzenversprechen präzise.
- Erweitern und testen Sie Ihr Geschäftsmodell mit neuen, innovativen Ideen.
- Setzen Sie die erfolgreichen Ideen konsequent um.
Übersicht verschiedener innovativer Geschäftsmodellbeispiele wie Add-on und Pay-per-Use zur Inspiration für disruptive Ansätze.
Fazit: Die Notwendigkeit disruptiver Denkweisen
Disruptive Geschäftsmodelle sind keine Modeerscheinung, sondern eine Notwendigkeit in der modernen Wirtschaft. Sie fordern Unternehmen auf, ihre etablierten Denkweisen zu hinterfragen, Kundennutzen neu zu definieren und Technologie als Enabler für tiefgreifende Veränderungen zu sehen. Ob durch die Kontrolle eines Marktplatzes, die effiziente Bündelung von Ressourcen oder die intelligente Aggregation von Daten – der Kern erfolgreicher Disruption liegt in der Fähigkeit, Wert auf unkonventionelle Weise zu schaffen.
Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit dem eigenen Geschäftsmodell, die Bereitschaft zur Innovation und der Mut, neue Wege zu gehen, sind entscheidend. Nutzen Sie Werkzeuge wie das Business Model Canvas und lassen Sie sich von bewährten Ansätzen inspirieren, um Ihr Unternehmen nicht nur wettbewerbsfähig zu halten, sondern es aktiv als Gestalter der Zukunft zu positionieren. Wer heute nicht disruptiv denkt, läuft Gefahr, morgen selbst disruptiert zu werden. Es ist Zeit, das Potenzial Ihres Geschäftsmodells voll auszuschöpfen und neue Wachstumschancen zu ergreifen.
Autor: Michael Wächter
Quellen, Anmerkungen und weiterführende Literatur
- Gassmann, O., Frankenberger, K., & Csik, M. (2013). The St. Gallen business model navigator.
- Osterwalder, A., & Pigneur, Y. (2010). Business model canvas. Self published. Last.
- Gassmann, O., Frankenberger, K., & Csik, M. (2017). Geschäftsmodelle entwickeln: 55 innovative Konzepte mit dem St. Galler business model navigator. Carl Hanser Verlag GmbH Co KG.
- Lead Innovation. Geschäftsmodellinnovation: Welche Methode ist die Richtige? online unter: https://www.lead-innovation.com/blog/gesch%C3%A4ftsmodellinnovation-methode, abgerufen am 28.06.2020.
