Die Nachfrage nach alkoholfreiem Wein boomt, besonders in der Schweiz. Angestoßen durch Trends wie den “Dry January” und ein gestiegenes Gesundheitsbewusstsein, entdecken immer mehr Konsumenten die Vielfalt dieser Getränke. Doch was steckt hinter diesem Trend und wie schneiden alkoholfreie Weine im Vergleich zu ihren alkoholhaltigen Pendants ab?
Bunte Auswahl an alkoholfreien Weinflaschen, darunter Weißwein und Rosé, in einem Supermarktregal.
Der Aufstieg des alkoholfreien Genusses
Vergessen Sie die Zeiten, in denen nur Rivella als alkoholfreie Alternative beim Anstoßen zur Verfügung stand. Der Markt für alkoholfreie Getränke, und hier insbesondere alkoholfreier Wein, erlebt einen bemerkenswerten Aufschwung. Ob aus gesundheitlichen Gründen, während der Schwangerschaft oder einfach aus dem Wunsch nach einem bewussteren Lebensstil – immer mehr Menschen entscheiden sich für eine Alternative zu alkoholhaltigen Getränken.
Detailhändler wie Coop und Migros bestätigen diese Entwicklung. Coop beobachtet seit fünf Jahren eine stetig wachsende Beliebtheit von alkoholfreien Weinen. Migros hebt hervor, dass sich alkoholfreie Getränke generell einer wachsenden Nachfrage erfreuen. Dennoch bleibt die Nachfrage nach alkoholfreiem Wein im Vergleich zu alkoholfreiem Bier noch auf einem niedrigeren Niveau. Das Verhältnis liegt laut Migros bei etwa 20 zu 1 zugunsten des Bieres. Auffallend ist, dass die Verkaufszahlen für alkoholfreien Wein besonders im Januar, während des sogenannten “Dry January”, deutlich ansteigen.
Der Markt: International dominiert, aber mit Potenzial
Ettore Müller, Verkaufsleiter bei Gialdi Vini in Mendrisio, bestätigt, dass der Markt für alkoholfreien Wein in der Schweiz schnell wächst, auch wenn genaue Zahlen schwer zu ermitteln sind. Schweizer Anbieter sind rar, mit Ausnahmen wie Rimuss im Bereich Schaumwein. Sowohl Coop als auch Migros beziehen ihre alkoholfreien Weine derzeit aus dem Ausland. Dies liegt an den größeren Produktionskapazitäten und den höheren Investitionen in Forschung und Entwicklung, die ausländische Anbieter leisten können. Die Entalkoholisierung ist ein kostspieliger und komplexer Prozess, der für kleinere Schweizer Weingüter oft eine zu große Investition darstellt.
Es gibt jedoch ermutigende Entwicklungen: Ein neues Zentrum in der Westschweiz bietet Entalkoholisierung als Dienstleistung an, und es wird zunehmend möglich, auch bei alkoholfreien Weinen detaillierte Angaben zu Herkunft, Rebsorten und Jahrgang zu machen.
Kleine Nische mit großem Wachstumspotenzial
Giancarlo Pizzolotto, Betreiber des Online-Shops “Undrunk” für alkoholfreie Getränke, erlebt die erhöhte Nachfrage im Januar hautnah. Die Bestellungen sind in diesem Monat etwa dreimal so hoch wie in anderen Monaten. Er beobachtet, dass der “Dry January” immer populärer wird und der Trend zu alkoholfreien Alternativen nachhaltig ist. Im Gegensatz zu früheren Jahren, wo die Nachfrage im Sommer abflachte und erst im November wieder anzog, verzeichnete er in diesem Jahr keine signifikante Nachfragereduktion.
Pizzolotto startete seinen Shop vor drei Jahren mit dem Fokus auf alkoholfreies Bier. Seit anderthalb Jahren ergänzt er sein Sortiment mit alkoholfreien Weinen. Mittlerweile erzielt er rund 70 Prozent seines Umsatzes mit Wein, wenngleich auf einem kleineren Maßstab als die großen Detailhändler. Er ist überzeugt, dass alkoholfreier Wein sich weiter etablieren wird, auch wenn es noch einige Zeit dauern könnte, bis er die breite Masse erreicht.
Martin Wiederkehr, Geschäftsführer des Weinbauzentrums Wädenswil, schätzt den aktuellen Marktanteil von alkoholfreiem Wein auf weit unter 2 Prozent. Zum Vergleich: Alkoholfreies Bier hält sich bei 6 bis 7 Prozent, während Obstwein über 50 Prozent des Marktes ausmacht.
Die Qualitätsfrage: Wo liegt die Herausforderung?
Ein wesentlicher Grund für den geringeren Marktanteil von alkoholfreiem Wein liegt in der bisher erreichten geschmacklichen Qualität. Im Gegensatz zu alkoholfreiem Bier oder Obstwein, wo die Produkte geschmacklich oft kaum vom Original zu unterscheiden sind, haben alkoholfreie Weine noch Nachholbedarf. Bier und Obstwein besitzen von Natur aus weniger komplexe Aromaprofile und einen geringeren Alkoholgehalt, was die Entalkoholisierung und Geschmacksanpassung erleichtert.
Bei Wein, der naturgemäß einen höheren Alkoholgehalt aufweist, stellt die Entnahme des Alkohols eine größere Herausforderung dar. Alkohol ist nicht nur ein wichtiger Geschmacksträger, sondern auch ein Lösungsmittel für viele Aromastoffe. Fehlt der Alkohol, verändern sich Textur und Aromenwahrnehmung. Martin Wiederkehr vergleicht es mit Fett im Fleisch: “Ohne schmeckt es einfach anders.”
Die Herstellung von alkoholfreiem Wein beginnt identisch mit der Herstellung von herkömmlichem Wein. Anschließend wird der Alkohol durch aufwendige Verfahren entzogen. Eine gängige Methode ist die Vakuumdestillation bei niedrigen Temperaturen (20-30 Grad Celsius), die den Siedepunkt des Alkohols senkt und thermische Schäden an den Aromen minimiert. In einigen Fällen werden einzelne Aromen isoliert und dem Wein später wieder hinzugefügt. Trotz dieser Maßnahmen gehen unweigerlich Teile des ursprünglichen Geschmacks verloren.
Eine weitere Technik ist die Membranfiltration, bei der der Alkohol durch eine feine Membran abgetrennt wird. Beide Verfahren haben ihre Vor- und Nachteile, und es bleibt eine Herausforderung, geschmacklich das Niveau von herkömmlichem Wein zu erreichen.
Interessanterweise zeigt sich beim alkoholfreien Schaumwein die geringste Geschmacksdifferenz zum Originalprodukt. Die Kohlensäure und die Dosage können die durch den fehlenden Alkohol entstandenen Lücken ausgleichen und für Frische und Textur sorgen. Am schwierigsten ist die Herstellung von alkoholfreiem Rotwein, da dieser besonders viele phenolische Bestandteile wie Tannine enthält, die den Geschmack und die Struktur maßgeblich prägen und sich beim Entzug des Alkohols nur schwer bewahren lassen.
Einsteiger-Tipps für alkoholfreien Wein
Trotz der technischen Herausforderungen sieht Martin Wiederkehr großes Potenzial für alkoholfreien Wein. Mit steigendem Gesundheitsbewusstsein und weiteren Fortschritten in der Produktionstechnologie werden sich die Marktchancen voraussichtlich weiter verbessern. Die wachsende Nachfrage und innovative Ansätze in der Weinherstellung könnten den geschmacklichen Abstand zum traditionellen Wein verringern.
Giancarlo Pizzolotto vom “Undrunk” empfiehlt Einsteigern, zunächst zu alkoholfreiem Weißwein und Rosé zu greifen. Er ist überzeugt, dass alkoholfreier Wein eine feste Größe im Getränkemarkt werden wird und sich weiter etablieren wird. “Die herkömmlichen Weine werden die alkoholfreien Alternativen nicht ersetzen, sondern ergänzen”, so Pizzolotto. Ähnlich wie es heute bei vielen Produkten eine Bio-Alternative gibt, wird auch alkoholfreier Wein zu einer selbstverständlichen Ergänzung.
