Die Geschichte der deutschsprachigen Literatur ist reich an Erzählungen über Talent, Leidenschaft und die unerbittliche Macht des Schicksals. Eine besonders berührende und zugleich inspirierende Figur in diesem Kontext ist Alice Urbach, eine Wiener Kochbuchautorin, deren Leben und Werk untrennbar mit den turbulentesten Kapiteln des 20. Jahrhunderts verbunden sind. Elf Jahre nach ihrer Flucht nach England im Jahr 1938 kehrte Alice Urbach 1949 erstmals nach Österreich zurück. Ein Titel in einem Buchladen zog ihre Aufmerksamkeit auf sich: So kocht man in Wien! von Rudolf Rösch. Es war ein dickes, umfangreiches Kochbuch von fast 600 Seiten. Doch was sie sah, waren nicht nur ihre Rezepte, sondern auch rund hundert Schwarz-Weiß-Fotos ihrer Hände – ein schmerzhafter Beweis eines Diebstahls, der ihre Identität und ihr Lebenswerk betraf. Ihr eigenes Buch, das auf ihrer umfassenden Koch- und Lehrerfahrung basierte, war ein Bestseller gewesen, bis zur Annexion Österreichs. Was sie nicht wusste: Der Verlag hatte ihr Kochbuch während des Holocausts unter einem anderen Namen weiterverkauft. Die Geschichte von Alice Urbachs Kochbuch, wie sie in der Biografie Das Buch Alice ihrer Enkelin Karina Urbach dokumentiert ist, zeugt von Einfallsreichtum und Beharrlichkeit inmitten historischer Wirren, die das Leben vieler im damaligen Deutschland und Österreich prägten.
Eine außergewöhnliche Kindheit und die Leidenschaft fürs Kochen
Alice Urbachs Vater, Salomon Meyer, entstammte ärmlichen Verhältnissen in Pressburg und stieg zu einem erfolgreichen Geschäftsmann und Stadtrat auf. Alice wuchs in einer wohlhabenden Wiener Familie auf und erhielt eine Ausbildung zur Dame der Gesellschaft. Sie nahm Klavier- und Gesangsstunden, aber eine berufliche Ausbildung wurde ihr nicht zuteil. Schon als Kind träumte sie jedoch davon, Köchin zu werden. Diesen Traum verfolgte sie, indem sie eine „sehr exklusive, snobistische Kochschule“ besuchte, wo sie von einem französischen Konditor aus einem der besten Ringstraßenhotels das Kochen erlernte. „Dieser Cordon-Bleu-Koch von der Ringstraße lehrte mich Dinge, die später mein Rettungsanker sein sollten“, schrieb sie später. Anfangs war Kochen nur ein Hobby, bei dem sie sich auf Desserts wie selbstgemachte Bonbons, Petit Fours und andere Süßigkeiten spezialisierte. Diese frühe Prägung sollte sich später als entscheidend für ihre berufliche Laufbahn erweisen.
Alice Urbach demonstriert die Zubereitung von Orangenschnitten und Osterkuchen
Vom gesellschaftlichen Zwang zur finanziellen Notwendigkeit
Wie alle jungen Frauen aus gut situierten Familien wurde von Alice erwartet, dass sie heiratete und keinen Beruf ausübte. Unter diesem Druck heiratete sie 1912 den Arzt Max Urbach. Die Ehe war jedoch eine schlechte Wahl und eine unglückliche Erfahrung. Sie musste ihr Zuhause im schönen Döblinger Cottageviertel verlassen und zog nach Ottakring, einem armen, überfüllten Viertel. Hier sah sie, wie hart das Leben einer Arbeiterin sein konnte. Die Geburt ihres ersten Sohnes Otto im September 1913 brachte ihr große Freude, obwohl ihre Ehe weiterhin unglücklich blieb. Max Urbach verbrachte einen Großteil seiner Zeit mit Trinken und Kartenspielen. Er schien ein Glücksspielproblem zu haben, das die finanzielle Stabilität der Familie schädigte. Der Erste Weltkrieg verstärkte die finanziellen Belastungen der Familie zusätzlich, was Alice vor große Herausforderungen stellte, die sie jedoch mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit meisterte.
Alice’ zweiter Sohn wurde im November 1917 geboren. Als Alices Ehemann im April 1920 starb, war Alice erleichtert – er hatte zu diesem Zeitpunkt den größten Teil ihrer Ersparnisse ausgegeben und ihr fast nichts hinterlassen. Zusätzlich verstarb ihr Vater und hinterließ ihr ein relativ geringes Erbe. Mit zwei Söhnen und ohne eine angemessene Berufsausbildung befand sich Alice in einer Zwangslage, finanzielle Unterstützung zu finden. In dieser Zeit zeigten sich ihr Einfallsreichtum und ihre Zähigkeit in besonderem Maße.
Kreativität in der Küche: Von Bridge-Bissen zur eigenen Kochschule
Zuerst nahm sie junge Frauen als Pensionsgäste auf, für die sie Kekse und Geburtstagskuchen backte. Als sich die finanzielle Lage im Nachkriegsösterreich verbesserte und die Menschen mehr Geld ausgeben konnten, begann Alice, für Partys zu kochen, insbesondere für die Bridge-Partys ihrer Schwester Helene Eissler. Auf diesen Partys kreierte Alice ihr erstes berühmtes Gericht. Bridge-Partys dauerten lange, und niemand konnte während des Spiels seine Karten ablegen. So entstanden Alices Bridge-Bissen, kleine Häppchen auf weißem oder dunklem Brot, die mit einem Zahnstocher zusammengehalten wurden und ohne Besteck gegessen werden konnten, ohne die Karten abzulegen.
Das Rezept für Alice Urbachs charakteristische "Bridge-Bissen"
Beeindruckt von ihrem Essen, baten Partygäste um Kochstunden. Alice ging zu einem Eisenwarengeschäft mit einer Testküche und fragte, ob sie diese für Kurse nutzen könnte. In ihrer ersten Sitzung hatte sie nur eine Studentin, und Alice war so nervös, dass sie vergaß, den Zucker zum Rezept hinzuzufügen. Trotz dieses anfänglichen Missgeschicks verbreitete sich schnell positive Mundpropaganda, und bald war ihr Kochkurs überfüllt. Sie wurde so populär, dass sie ihre eigene Kochschule eröffnen konnte. Es wurde zum Muss für junge Mädchen, einen Kurs bei ihr zu besuchen. Alice startete auch einen Lieferservice für zubereitete Fertiggerichte, wahrscheinlich der erste Dienst dieser Art in der Region.
Alice Urbach demonstriert das Formen kleiner Gebäckstücke
Ihre Schwester, Sidonie Rosenberg, war Journalistin, und mit ihrer Hilfe veröffentlichte Alice ihr erstes Kochbuch. Das Kochbuch für Feinschmecker war eine Sammlung echter österreichischer „Familienrezepte“ für den täglichen Gebrauch, festliche Anlässe und fröhliche Kaffeekränzchen, die darauf ausgelegt waren, Gäste zu beeindrucken. Es enthielt 50 Seiten mit Kuchen, Eiscremes und Konfekt sowie einige Seiten mit Vorspeisen wie Pastetchen.
Der Erfolg und das Schicksal ihrer Kochbücher in bewegten Zeiten
Während Alice ihre neu entdeckte Karriere als Autorin und Kochlehrerin verfolgte, verließ ihr erster Sohn, Otto, frühzeitig das Elternhaus, um zu reisen. Der eigensinnige Otto entschied sich für eine Ausbildung zum Automechaniker, ein unkonventioneller Beruf für jemanden aus einer wohlhabenden Familie. Auf seinen Reisen knüpfte er eine Verbindung zu Dexter Keezer, dem Präsidenten des Reed College, einer kleinen Universität in Portland, USA. Keezer stellte ihn als Skilehrer und Austauschstudent ein. Otto sollte später das Skiteam der Hochschule gründen und beim Bau ihrer Skihütte (im österreichischen Stil) helfen. Als Teil seiner Studienvereinbarung am Reed College musste Alice Reed-Studenten als Pensionsgäste in Wien aufnehmen. Die Familienlegende besagt, dass Alice nach seiner Abreise nicht wusste, wo er war, bis 1935 die ersten Pensionsgäste bei ihr auftauchten. Obwohl dies eine Unannehmlichkeit war, halfen ihm die Verbindungen, die Otto am Reed College knüpfte, unter anderem mit seiner Kommilitonin Cordelia Dodson, außerhalb Österreichs zu bleiben und seinem Bruder Karl bei der Flucht aus dem nationalsozialistisch besetzten Österreich zu helfen.
Nach ihrem ersten Kochbuch sammelte und entwickelte Alice weiterhin Rezepte, die sie schließlich dem Verleger Ernst Reinhardt als Manuskript für ihr zweites Kochbuch übergab. So kocht man in Wien!, 1936 veröffentlicht, wurde ein Bestseller. Bis 1938 befand es sich in der dritten Auflage mit einer Auflage von 15.000 bis 25.000 Exemplaren. Das Buch enthielt zahlreiche Schwarz-Weiß-Fotos von Alices Händen, die Kochkünste demonstrierten, aber keines von ihrem Gesicht.
Im März 1938 wurde Österreich von Deutschland annektiert. Das Leben wurde für jüdische Wiener äußerst schwierig. Karl Urbach verlor seine Position an der Universität Wien und konnte nicht einmal seine Bücher holen. Während Alice Urbach eine Position in England fand und Wien verlassen konnte, musste Karl auf eine Bürgschaft seines Bruders in den USA warten. Er arbeitete weiterhin in kleinen Jobs, wie zum Beispiel Kaffee ausliefern, während er viele Stunden in Schlangen für Einwanderungspapiere anstand. Am Tag nach der Reichspogromnacht ging Karl, um ein notwendiges Papier für seine Einwanderung zu holen, und wurde, wie viele andere jüdische Männer in Wien, von der Gestapo abgeholt. Sie wurden in Viehwaggons geladen und nach Dachau gebracht. 1939 wurde Karl freigelassen – es ist unklar, warum dies geschah. Er verließ Österreich sofort nach dieser Haft und kam 1939 in den Vereinigten Staaten an.
Widerstand und Menschlichkeit im Exil: Das Windermere Hostel
In England arbeitete Alice Urbach weiterhin als Köchin, bis sie und ihre Freundin Paula Sieber in Windermere ein Hostel für jüdische Flüchtlingsmädchen aus dem Kindertransport eröffneten. In Interviews sprachen ehemalige Bewohnerinnen des Windermere Hostels über diese Zeit. Im Gespräch mit der Austrian Heritage Collection sagte Alisa Tennenbaum (geboren als Liselotte Liesl Scherzer): „Sie hatte eine Kochschule in Wien. Also waren wir nie ohne Essen. Auch während des Krieges … aus Karotten bekamen wir einen Geburtstagskuchen.“ Ilse Camis erinnerte sich: „Die Hausmutter war zufällig die Lehrerin meiner Mutter in Wien in ihrer Kochschule … Wir mussten unsere eigene Reinigung [im Hostel] machen. Die Hausmutter unterrichtete uns in der Küche.“ Eine andere Bewohnerin, Anita Heufeld Fellner, beschrieb Alice und Paula als unerträglich streng, besonders was Reinigung und Hausarbeit betraf. Alice, mit ihrer Erfahrung als Köchin, und Paula, die in Wien ein Kino geleitet hatte, waren beide sehr fähige Managerinnen, hatten aber wenig Erfahrung im Betrieb eines Mädchenheims. In einer Biografie kommentierte Anita Fellner: „Die beiden Frauen [Alice und Paula], die das Heim leiteten, kamen aus Wien und verstanden nichts vom Umgang mit Kindern … Niemand wusste damals etwas über Psychologie.“
Die Enteignung ihres Werks: Rudolf Rösch und die Nachkriegszeit
Alice’ Kochbuch wurde weiter veröffentlicht, durfte aber aufgrund der NS-Gesetze, die die Publikation „jüdischer“ Bücher untersagten, nicht unter ihrem Namen erscheinen. Zu diesem Zeitpunkt war der ursprüngliche Verleger von So kocht man in Wien! verstorben, und das Unternehmen war von seinem Neffen Hermann Jungck übernommen worden. In der NS-Zeit war es nicht ungewöhnlich, dass ein Verleger den Autor eines Werkes änderte, wenn der ursprüngliche Autor Jude war, oder einen von einem jüdischen Autor verfassten Text plagiierte. Zwei Ausgaben von So kocht man in Wien! wurden 1939 veröffentlicht, diesmal jedoch unter dem Namen Rudolf Rösch. Auf dem Titelblatt wird Rösch als „langjähriger Küchenmeister“ beschrieben. Es gibt keine konkreten Beweise dafür, dass diese Person jemals existiert hat, was die Dreistigkeit des Plagiats noch deutlicher unterstreicht.
Vegetarische Menüs aus Alice Urbachs Originalkochbuch "So kocht man in Wien!"
Ein erfülltes Leben nach dem Krieg und das späte Wiedererkennen
Alice und ihre beiden Söhne überlebten den Zweiten Weltkrieg. Nach seiner Ankunft in den Vereinigten Staaten arbeitete Karl als Dachdecker, Skilehrer und Feuerwehrmann und schloss 1942 sein Studium am Reed College ab. Er promovierte 1950 an der Northwestern University und arbeitete im US Public Health Service. Otto Urbach trat dem amerikanischen Militär bei und war in der Spionageabwehr tätig. Alice führte ihr Hostel für Kindertransport-Jugendliche weiter, bis sie nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten auswanderte, wo sie als professionelle Köchin für private Partys, als Ernährungsspezialistin und im Ruhestand als Lehrerin für Wiener Küche arbeitete. Ihre Schwestern, Sidonie und Helene, kamen beide im Holocaust um.
Obwohl ihr Kochbuch nicht mehr ihren Namen trug, wurde sie in San Francisco und New York oft auf der Straße von Menschen angesprochen, die sich an sie und ihre Kochschule erinnerten. Alices Buch wurde bis in die 1960er Jahre unter dem Namen Rudolf Rösch weiter veröffentlicht – und profitierte davon. Alice erhielt nie eine Entschädigung für ihr gestohlenes Buch.
Fazit:
Die Geschichte von Alice Urbach ist mehr als die einer talentierten Köchin und erfolgreichen Autorin; sie ist ein Zeugnis menschlicher Widerstandsfähigkeit im Angesicht von Verfolgung und Ungerechtigkeit. Ihr kulinarisches Erbe und ihr unermüdlicher Einsatz für andere, selbst in den dunkelsten Zeiten, verdienen es, in Erinnerung gerufen zu werden. Ihre Erfahrungen spiegeln die Brüche und die Stärke wider, die die deutschsprachige Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts prägen. Die Erkenntnis, dass ihre Werke unter einem fremden Namen weiterlebten, macht ihre Geschichte zu einem Mahnmal für die Bedeutung geistigen Eigentums und die Verantwortung von Verlagen. Alice Urbachs Lebenswerk, das trotz allem überdauerte, lädt uns ein, die tiefen Spuren von Geschichte und Kultur im Herzen des heutigen Deutschlands und Österreichs weiter zu erforschen und die oft übersehenen, aber immens wichtigen Beiträge einzelner Persönlichkeiten zu würdigen.
